Der Glauben als Bogen

Lessings aufgeklärtes Religionsverständnis Gotthold Ephraim Lessing hat dem konfessionellen Zeitalter sein einheitliches Menschenbild entgegengesetzt. Es ist überkonfessionell, individualistisch und subjektivistisch gemeint, geleitet von der Überzeugung, jeder Mensch sollte selbst entscheiden können, welche Religion ihm passend erscheint. Die mit diesem Menschenbild verbundene Religionskritik ist nicht vordergründig – im Gegenteil, Konfession und vom konfessionellen Staat gelenkte Glaubenspraxis werden als bloße Äußerlichkeiten („Zierraten“) betrachtet, die vom inneren Raum individueller Glaubensüberzeugung getrennt werden müssen. Das verdeutlicht die folgende Fabel: Der Besitzer des Bogens Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoss, und den er […]

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Die „unmöglichen“ Rechte der Familie

Die kleistsche Erzählung „Die Marquise von O.“ vor dem Hintergrund der dargestellten Kriegshandlungen Der Kommandant In der Perspektive des Kommandanten ist alles mit dem Koalitionskrieg verbunden, jeder Angreifer willens, die Auswüchse der Französischen Revolution auf italienischem Boden zu bekämpfen. Er betrachtet die Zitadelle so lange als französisches Staatsgebiet, bis der Krieg auf sie übergreift. Die Familie, eingeschlossen die verwitwete Marquise mit ihren Kindern, steht außerhalb dieser territorialen Ordnung. Sie ist kein Staatsgebiet oder koloniales Gebiet; sie ist, seit der Geltung des Code Civil, prinzipiell auch nicht mehr okkupierbar. Zwar bleibt die Familie weiterhin der väterlichen Gewalt unterworfen, doch wird […]

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Lessings Gretchenfrage

Die kontroverse Religionsauffassung im Drama „Nathan der Weise“ Die Religion war zu Lessings Zeiten hochgradig kontrovers. Kirchliche Lehre, Schriftauslegung, kirchliche Praxis – an jedem dieser Bereiche konnte die Kritik ansetzen. Das Christentum musste sich, vor allem auf der katholischen Seite, um Argumente bemühen, denn das Autoritätsargument, Gott als letztgültige Instanz in allen wichtigen Fragen anzusehen, überzeugte nicht mehr. Man musste über alle drei Bereiche neu nachdenken und sich in ein neues Verhältnis zur Vernunft setzen. Im Bereich der Lehre ging es um die Wahrheit in der Frage, ob Gott sein unbegreifliches Wesen geoffenbart habe oder ob er ein Produkt […]

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Kritik des naiven Optimismus

Nathans Erziehungsauftrag Mehr als zwanzig Jahre vor dem Erscheinen des „Nathan“ (1779) bebte in Lissabon die Erde. In der Nacht vom 1. November 1755 kamen 30.000, nach manchen Zählungen 60.000 Menschen ums Leben. Voltaire knüpfte an seinen Eindruck von der „Mutter aller Katastrophen“ den Gedanken, dass naiver Optimismus nicht mehr zulässig sei. Betrogene Philosophen – schreibt Voltaire in seinem „Poème sur le désastre de Lisbonne“ – die riefen: Alles ist gut! („Tout est bien“). Der Glaube an Gottes Gesetz und Vorsehung wurde einer kritischen Prüfung unterzogen. Lessing schloss sich Voltaire an: Auch für ihn hatte infolge der Debatten über […]

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Grenzen der Aufklärung

Goethe im Jahr 1774. Bleistiftzeichnung von Georg Friedrich Schmoll. Goethe im Verhältnis zur Aufklärung Die Idee der Aufklärung vermochte sicherlich auch in Deutschland die Gebildeten an sich zu fesseln. Hätte es den entsprechenden Wettbewerb vor 250 Jahren bereits gegeben, das Wort „Aufklärung“ wäre gewiss zum „Wort des Jahres“ erklärt worden. Auch der junge Goethe scheint freudig erregt, wenn auch mit schlechtem Gewissen, denn studiert hat er Kant freilich nicht. Aber er greift begeistert zur Feder, um sich in Briefen mit Freunden über alle möglichen aktuellen Themen in aufgeklärter Manier auszutauschen. Unter den Stimmen der Aufklärer um ihn herum lassen […]

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Ein herrlicher Sonnenaufgang!

„Aufklärung“ Hätte es den entsprechenden Wettbewerb vor 250 Jahren bereits gegeben, das Wort „Aufklärung“ wäre gewiss zum „Wort des Jahres“ erklärt worden. Aber nicht nur im deutschen Sprachraum war die mit diesem Wort verbundene Idee in aller Munde. Die Idee der Aufklärung war eine europäische Idee. Anfangs wurde sie nur unter den Gebildeten Europas kommuniziert, später wurde sie zur Idee, die auch die Herzen der unteren Stände bewegte. Dieser universale Anspruch war in der Idee der Aufklärung selbst begründet. Die Aufklärung überschritt die Ständegrenzen, sie wollte alle und jeden erreichen. „Der Mensch [sollte]“, schrieb Hegel später im Rückblick auf […]

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