Regeln der Interpretation

Beobachtungen des Lehrers anlässlich einer Deutschklausur 1. Argumenta a textu sunt praeferenda! Oder: Marie, die Prostituierte Wie oft wird die Analyse, der Vergleich, die Interpretation usw. auf Informationen bezogen, die außerhalb des Textes vorkommen! Marie sei eine Prostituierte, heißt es zum Beispiel in der Klausur eines Schülers über Büchners „Woyzeck“, also könne sie den Tambourmajor nicht aufrichtig lieben. Ihre „Liebe“ sei rein sexueller Natur. Marie ist eine Prostituierte, das wird tatsächlich in einer Anmerkung angegeben. Es wird in der Einleitung des Klausurtextes, zweier Szenen aus dem Drama, kurz erwähnt. Marie, die Prostituierte – das ist allerdings ein Klischee, mit […]

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„Faust“ in Thesen

Erste These: Der „Faust“ liegt nicht als abgeschlossenes Werk vor. Der Dichter verweist darauf bereits in der „Zueignung“, dem ersten „Portal“ der Dichtung. Er kann die Geister, die er als jugendlicher Dichter rief, nicht beschwören („Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten“, V. 31); der alte Dichter erkennt den vergeblichen „Wahn“ in dem Versuch, Figuren von der Größe Fausts festzuhalten (vgl. V. 3–4). Mit jedem weiteren „Portal“ – insgesamt sind es drei: „Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“ – wagt sich der Dichter von Neuem an die Frage, worin denn die Wahrheit des Werkes besteht, das […]

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Kafka verständlich machen

„Der Proceß“ in psychologisierender Auslegung Das Altern der Texte hat zur Folge, dass Missverständnisse, Unklarheiten möglich sind. Unverständliches verständlich zu machen, darin liegt die Aufgabe der Interpretation – besonders schwierig erscheint die Aufgabe im Falle Kafkas. Neben die unzähligen Interpretationen des Romans „Der Proceß“ ist auch die psychologisierende Auslegung getreten. Sie legt dem Text insofern eine neue Bedeutung unter, indem sie psychologisches Wissen heranzieht, welches bei der Entstehung des Textes buchstäblich nicht vorhanden gewesen ist. Kafkas Text ist oberflächlich gesehen von Sigmund Freuds Gedanken bestimmt, wie Kafka selbst es stets betont hat; Einzelheiten aber und maßgebliche Begriffe, welche Freud […]

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Vater und Sohn

Gabriele Wohmann: „Denk immer an heut nachmittag“ (1968) Die Kurzgeschichte „Denk immer an heut nachmittag“ von Gabriele Wohmann aus dem Jahr 1968 schildert die Schwierigkeiten eines Vaters, mit seinem Sohn zu kommunizieren, nachdem die Ehefrau und Mutter verstorben ist. Das zu Grunde liegende Geschehen lässt sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen: Ein Mann, der vor Kurzem seine Frau verloren hat, muss seinen Sohn in einer Internatsschule unterbringen. Auf dem Weg zur Einschulung versucht der Vater den Sohn mit allerlei gut gemeinten Ratschlägen aufzuheitern, die aber sämtlich fehlschlagen. Die Situation lässt sich nach vier Aspekten gliedern: die Bahnfahrt; das Gespräch über […]

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Ekel. Vanitas mundi

An eine Geschminckte Was ist an Euch/ das Ihr Ewr eigen möget nennen? Die Zähne sind durch Kunst in leeren Mund gebracht; Euch hat der Schmincke dunst das Antlitz schön gemacht/ Daß Ihr tragt frembdes Haar/ kan leicht ein jeder kennen/ Vnnd daß Ewr Wangen von gezwungner Röte brennen/ Ist allen offenbahr/ deß Halses falsche Pracht/ Vnd die polirte Stirn wird billich außgelacht, Wenn man die salben sich schawt vmb die Runtzeln trennen. Wenn diß von aussen ist/ was mag wol in Euch sein/ Alß List vnd Trügerey/ Ich bild mir sicher ein/ Daß vnter einem Haupt/ das sich […]

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Nicht mehr leben können

Joseph von Eichendorff: Das zerbrochene Ringlein (1837) In einem kühlen Grunde Da geht ein Mühlenrad, Mein Liebste ist verschwunden, Die dort gewohnet hat. Sie hat mir Treu versprochen, Gab mir ein’n Ring dabei, Sie hat die Treu gebrochen, Mein Ringlein sprang entzwei. Ich möcht als Spielmann reisen Weit in die Welt hinaus, Und singen meine Weisen, Und gehn von Haus zu Haus. Ich möcht als Reiter fliegen Wohl in die blutge Schlacht, Um stille Feuer liegen Im Feld bei dunkler Nacht. Hör ich das Mühlrad gehen: Ich weiß nicht, was ich will – Ich möcht am liebsten sterben, Da […]

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