Über Orest

An Goethes Gestaltung der Figur Orest wird deutlich, wie Charaktere in ihr Gegenteil umschlagen können. Fühlt der junge Orest wie eine Figur des Sturm und Drang sich belebt durch die Bestimmung zur Freiheit, empfindet der ältere Orest, von den Erinnyen verfolgt, tief die Unmöglichkeit der Freiheit. Will der Leser die Figur des Orest richtig erfassen, muss er diese doppelte Bestimmtheit berücksichtigen. Natürlich hat der Muttermord den Bruch herbeigeführt. Daran darf der Leser nicht vorbeigehen: Orest ist ein schuldbeladener Charakter. Es muss jedoch festgehalten werden: Die wahnsinnige Klage des Orest verweist darauf, wie sehr er die Mutter geliebt hat.

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Spiegel des Humanen

Wie wird Orest geheilt? Das Befremden, mit dem Iphigenie und Orest einander begegnen, ist von der gleichen Art wie das Befremden, mit dem ein Mensch sein Spiegelbild betrachtet. Für Orest ist Iphigenie ebensowenig greifbar, wie eine Reflexion im Spiegel greifbar ist. Für Goethe offenbart der Spiegel das so genannte Doppelgesicht. So erkennt der wahnsinnige Orest anfangs nicht die Schwester in dem Gesicht der Schwester, sondern nur die Furie, allgemeiner gesagt: nur das strafend Göttliche darin (V. 1169–1171: „Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin? / Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich / Das Innerste in seinen Tiefen wendet?“). Ist […]

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Die reine Menschenliebe?

Iphigenie und Thoas Erster Aufzug. Dritter Auftritt (V. 450–537) Goethes Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“, am 6. April 1779 im kleinen Kreis der Weimarer Hofgesellschaft uraufgeführt, gilt als klassisches Humanitätsdrama. Iphigenie verkörpert, was auszufüllen kein einzelner Mensch imstande ist: die „reine Menschlichkeit“, wie Goethe selbst, nicht ohne Selbstkritik, im Hinblick auf dieses Drama bemerkt. Humanität, d. h. „Menschlichkeit“ oder „Menschenfreundlichkeit“ ist, im Kontext von Goethes Drama, als Gegenbegriff zu Barbarei, Unbildung, aber auch Fremdbestimmung aufzufassen. Im Kontext der Weimarer Klassik findet der Begriff außerordentliche Beachtung. In der Humanität, so formuliert es Herder in Berufung auf Kant, bestehe die Glückseligkeit des […]

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Iphigenie: Stand der Dinge

Wäre die Figur der Iphigenie nicht wiederholt vor ein moralisches Dilemma gestellt, wäre die dramatische Wirkung des Schauspiels dahin! Es liegt in der Absicht des Autors, dass die Emotionen, Gedanken und Wünsche der Figur nicht auf eine Richtung festgelegt sind. Iphigenie muss anders als zum Beispiel Orest hin und her gerissen sein zwischen dieser und jener Richtung. Sie muss Dinge mit Widerwillen tun, ihre Handlungen müssen paradox erscheinen.

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Die Schuld des Ahnherrn

Iphigenie und der Tantalus-Mythos Die Frage nach der Schuld ihrer Familie führt Iphigenie zum Tantalus-Mythos. So erzählt sie dem Skythenkönig von Tantalus, ihrem Urahn, dem schwerreichen Mann, dem Liebling der Götter. Dieser hat die Olympier dadurch beleidigt, dass er ihnen seinen Sohn Pelops, ohne überhaupt darum gebeten worden zu sein, geopfert und zum Mal gereicht hat. Die Olympier, Zeus vor allem haben Tantalus daraufhin aufgegeben und in die Unterwelt verbannt. Er muss in die unterste Unterwelt, den Tartarus, hinab, um dort für immer Hunger und Durst zu leiden. Die Götter haben den übermütigen Tantalus aufgegeben – nicht so Iphigenie! […]

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