Liebe als universale Kraft

Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst’.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“ stellt zwar kein Liebesgedicht im üblichen Sinn dar, Liebe als Weltenharmonie stellt dennoch ein zentrales Motiv des Textes dar.

Das Gedicht ist regelmäßig nach Art einer Volksliedstrophe gestaltet. Es gliedert sich in drei Quartette. Die Verse sind jambisch aufgebaut, weibliche und männliche Kadenzen alternieren.

1. Quartett: Die vom Mondlicht beschienene Landschaft löst beim lyrischen Ich glückliche Empfindungen aus: Ihm ist, als ob Himmel und Erde sich küssten.

2. Quartett: Die träumende Erde belebt sich, das lyrische Ich nimmt verschiedene Sinneseindrücke wahr.

3. Quartett: Auch das lyrische Ich fühlt sich belebt. Unter dem Eindruck seiner Empfindungen hat es das Gefühl, zu Hause zu sein.

Von der ersten Zeile an weiß der Leser, dass es sich nicht um eine äußere, sondern um eine Seelenlandschaft handelt. Der Konjunktiv („als hätt‘ der Himmel / Die Erde […] geküsst“, V. 1-2) unterstützt diesen Eindruck: Das Geschehen ist ganz in die Empfindung des lyrischen Ichs verlagert.
Vom Himmel wird nur metaphorisch gesprochen, ebenso von der Erde.
Mit Bedacht wählt von Eichendorff den Himmelskuss zur Metaphernbildung. Der universale Gegensatz zwischen Himmel und Erde wird durch den Kuss überwunden.
Auf der horizontalen Ebene, im Bereich des Irdischen, kommen die Dinge in Bewegung. Die Personifikation der alles belebenden Luft (V. 5) unterstreicht diesen Eindruck. Die Sinneseindrücke verdichten sich zur Synästhesie.
Wie aufgehoben sich das lyrische Ich in solch einer Welt vorkommt, schildert das Bild des Seelenflugs, das im letzten Quartett entfaltet wird. Das Verhältnis von Seele und Natur ist harmonisch. Die Landschaft wird dabei auf den Topos „stille […] Lande“ (V. 11) beschränkt. Der Leser gewinnt den Eindruck tiefen Friedens in der Natur.
Der Eindruck von Harmonie wird auch auf klanglicher Ebene nachgebildet, durch die Figura etymologica („Flügel […] flog […] flöge“, V. 10-12), durch den Einsatz von dunklen, zugleich strömenden Vokalen („Flügel […] flog durch […] flöge“, ebd.).
Auffällig ist allerdings der Konjunktiv. Er signalisiert, dass der Weltharmonie, der liebenden Verbindung zwischen Himmel und Erde, kein Abbild im Realen entspricht.

Die Liebe wird in von Eichendorffs Text als Überwindung der Gegensätzlichkeit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit verstanden. Dieser Gedanke wird durch die Aufhebung der Antithese („Himmel / Erde“, V. 1-2) im Kuss bildlich nachgestaltet.

Die letzte Strophe verrät endgültig, dass die Bildlichkeit des vorliegenden Textes vom romantischen Programm der Universalpoesie geleitet ist. In der Phantasie, heißt es da, wird die Einheit zwischen den transzendentalen und endlichen Kräften des Menschen gestiftet. In der Phantasie erfährt der Mensch das Gefühl, bei sich selbst zu sein, mit sich selbst eins zu sein.

Schreibe einen Kommentar