Nicht mehr leben können

Joseph von Eichendorff:
Das zerbrochene Ringlein (1837)

In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Mein Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.

Ich möcht als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.

Ich möcht als Reiter fliegen
Wohl in die blutge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.

Hör ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will –
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wärs auf einmal still!

Im vorliegenden Gedicht von Eichendorff beklagt das lyrische Ich den Verlust seiner Liebsten. Da ihm das Leben ohne Liebe sinnlos erscheint, denkt das lyrische Ich, zerrissen und voller Sehnsucht, über andere Lebensformen nach: Dabei treten ihm das Leben eines fahrenden Musikers und das eines Soldaten als Möglichkeit vor Augen. Zugleich erkennt das lyrische Ich seine innere Zerrissenheit. In dieser Stimmung bedenkt es die Möglichkeit des Todes.

Eichendorffs Gedicht ist ein typisches Gedicht der Romantik. Sehnsucht, Leidenschaft und zugleich das Gefühl der Ausweglosigkeit, Nicht-mehr-ein-noch-aus-zu-wissen – das Gedicht ruft Stimmungen hervor, die sich zu einer über diesen Einzelfall hinausgehenden Melancholie verdichten.

Das Gedicht ist regelmäßig nach Art einer Volksliedstrophe gestaltet. Es gliedert sich in fünf Quartette. Die Verse sind jambisch aufgebaut, weibliche und männliche Kadenzen alternieren. Durch den Kreuzreim werden die Verse eng miteinander verbunden. An einer Stelle kommt ein unreiner Reim vor (V. 1/3), an einer anderen Stelle ist das Reimschema unterbrochen (V. 17/19).

1. Quartett:
Das lyrische Ich ruft sich eine ehemalige Liebe in Erinnerung.

2. Quartett:
Die Treue, die Ausdruck in einem Ring fand, ist gebrochen. Die Liebste hat ihn verlassen.

3. und 4. Quartett:
Das lyrische Ich erwägt zwei alternative Lebensformen: das Leben als Musiker und das Leben als Soldat.
Sehnsucht nach Ruhe stellt sich ein: Das lyrische Ich denkt dabei an die nächtlichen Feuer der Soldaten im Feld.

5. Quartett:
Unter dem Eindruck des Mühlrads verstärkt sich die Ratlosigkeit: In seiner Not sehnt sich das Ich nach Ruhe im Tod.

Von der ersten Zeile an weiß der Leser, dass es sich nicht um eine äußere, sondern um eine „Seelenlandschaft“ handelt. Das Gebrauch des Mühlenmotivs („Da geht ein Mühlenrad“, V. 2), bezeichnenderweise unter Verwendung des Pars pro toto („Mühlenrad“), unterstützt diesen Eindruck: Das Geschehen ist ganz in die Seele eines leidenden – „aufgewühlten“ – Subjekts verlagert.

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