Ekel. Vanitas mundi

An eine Geschminckte

Was ist an Euch/ das Ihr Ewr eigen möget nennen?
Die Zähne sind durch Kunst in leeren Mund gebracht;
Euch hat der Schmincke dunst das Antlitz schön gemacht/
Daß Ihr tragt frembdes Haar/ kan leicht ein jeder kennen/

Vnnd daß Ewr Wangen von gezwungner Röte brennen/
Ist allen offenbahr/ deß Halses falsche Pracht/
Vnd die polirte Stirn wird billich außgelacht,
Wenn man die salben sich schawt vmb die Runtzeln trennen.

Wenn diß von aussen ist/ was mag wol in Euch sein/
Alß List vnd Trügerey/ Ich bild mir sicher ein/
Daß vnter einem Haupt/ das sich so falsch gezieret/

Auch ein falsch Hertze steh/ voll schnöder heucheley.
Sambt eim geschminckten Sin vnd Gleißnerey darbey/
Durch welche (wer Euch trawt) wird jammerlich verführet.

Andreas Gryphius, 1637

Das vorliegende Gedicht von Andreas Gryphius mit den Titel „An eine Geschminckte“ scheint oberflächlich betrachtet der petrarkistischen Sonettdichtung verpflichtet.

Das Gedicht ist im Jahr 1637 erschienen. Die Zeit ist von Widersprüchen geprägt: Dichter überbieten sich gegenseitig in dem Versuch, vollkommene Schönheit zu preisen. Zugleich wird an den Tod gemahnt. Jahrzehnte des Elends liegen hinter den Deutschen. Der Dreißigjährige Krieg bringt unsägliches Leid über die Menschen. Die Vanitas-Dichtung des Barock hält fest, dass der Mensch sterblich ist.

Vanitas-Motive bilden auch den Inhalt dieses Textes:
Eine ältere Frau versucht ihre Schönheitsmängel unter üppig aufgetragener Schminke zu verbergen. Der Sprecher brandmarkt ihre Gefallsucht als Laster. Sein beißender Spott wirkt irritierend.
So muss sich der Leser die Frage stellen, warum der Sprecher die dargestellte Frau der Lächerlichkeit preisgibt, warum er sie in beleidigender Form herabsetzt. Offenbar ist der Spott des Sprechers religiös-moralisch motiviert.

Der Text ist in der im Barock so beliebten Sonettform verfasst. Das Sonett ist laut barocker Vorstellung besonders dafür geeignet, gegensätzliche Gedanken zum Ausdruck zu bringen.

Das für Sonette vorgesehene Reimschema wird eingehalten: Den umarmenden Reimen in den Quartetten (abba, abba) folgen Schweifreime in den Terzetten (ccd, eed).

Als Versmaß hat der Dichter den Alexandriner gewählt, an den Schnittstellen, den Zäsuren, stehen in betonter Stellung bedeutungsschwere Wörter wie „Kunst“ (V. 2), „dunst“ (V. 3), „Trügerey“ (V. 10), „geschminkte[r] sin“ (V. 13). Der Jambus ist regelmäßig gebaut, Wort- und Versakzent fallen bis auf eine Ausnahme (V. 13: „Wenn man die salben sich schawt“) zusammen.

Gegenstand der Quartette ist das geschminkte Gesicht einer älteren Frau. Körperliche Mängel werden bloßgestellt: Die Dame trägt Perücke und falsche Zähne.

Die Terzette des Sonetts sind dem „Inneren“ des angesprochenen Du gewidmet. Sie handeln von der Verführungskunst, der Eitelkeit der dargestellten Dame.

Die Grundaussage des Sonetts wird an der rhetorisch zugespitzten Eingangsfrage deutlich: Alles ist falsch an dieser Dame, suggeriert diese Frage, oder anders gewendet: Ich empfinde Abscheu und Ekel vor dieser Frau.

Den Mängeln des Körpers entsprechen die geistigen Mängel.

Besonderes Gewicht hat die Akkumulation, ein typisches Kennzeichen petrarkistischer Sonettdichtung. Wie es für das Schönheitslob üblich ist, wird die Schönheit der angesprochenen Frau „inventarisiert“, „katalogisiert“, ihr Gesicht wird in allen Einzelheiten dargelegt, um das Lob, in diesem Fall jedoch die schonungslose Herabsetzung der dargestellten Schönen zu steigern.

Die Angriffslust des Sprechers findet in treffend formulierten Reimwörtern ihre Entsprechung: So wird des Körpers „Pracht“ „außgelacht“ (V. 6–7), das bedeutungsvolle Wort „Kunst“ reimt sich auf „dunst“ (V. 2–3).

Der in diesem Gedicht ausgesprochene Ekel besitzt eine moralische Kehrseite, denn indirekt preist der Sprecher die Vorzüge der so genannten „inneren Schönheit“.

Gemessen am Schönheitslob der im Unterricht besprochenen Gedichte tritt die Besonderheit des vorliegenden Gedichts deutlich hervor: Nirgends findet sich ein Ausdruck des Gefallens, geschweige denn ein Kompliment. Der Sprecher zeigt sich kämpferisch, unversöhnlich.

Allegorisch betrachtet versteht sich der Text als Kritik an der Eitelkeit der Welt. Das heißt, der Leser wird eigentlich darum gebeten, die dargestellte Frau als Bild der Welt zu deuten.

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