Alles gut?

Das Gnadenangebot des Kurfürsten

  • Prinz Friedrich von Homburg: Vierter Aufzug, vierter Auftritt

EINLEITUNG

Für viele ist bereits das morgendliche Aufstehen Ausdruck des guten Willens. Frühaufsteher haben ihn gewiss in anderer Hinsicht nötig. Ohne den guten Willen verfehlen Vorsätze ihre Wirkung, verliert die Reue ihren Wert. Der gute Wille bildet schließlich den Charakter des Menschen.

Heinrich von Kleist übernimmt diesen kantischen Gedanken in dem Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“. Kleist scheint in dem Prinzen Charakterbildung demonstrieren zu wollen. Ist das Schauspiel daher als Erziehungsdrama zu betrachten? Dieser Vorstellung folgend wäre der Kurfürst der Erzieher des Prinzen und der Prinz durch den Herrscher zur Reife gelangt. Die vermeintliche Erziehung des Prinzen wird jedoch mit drastischen Methoden vollzogen. Das Gnadenangebot des Kurfürsten stellt den guten Willen des Prinzen in beinahe sadistischer Weise auf die Probe. Und als der Prinz das Gnadenangebot ausschlägt, wird er tatsächlich bis zum Schafott geführt. Es ist daher sinnvoller, von einem Drama des guten Willens oder Pflichtendrama zu sprechen.

Kleists Drama zeigt die Kehrseite des guten Willens. Für sich mag der Wille gut sein, er verliert jedoch an Wert, insofern er mit anderen Bestimmungsgründen des Willens einhergeht, im Hinblick auf die Konsequenzen beispielsweise, indem sowohl der Kurfürst als auch der Prinz auf Anerkennung für ihre Entscheidung hoffen, indem der Kurfürst seine Macht zu erhalten strebt, im Hinblick auf die Motive, indem der Prinz seine Ehre wiederherstellen möchte usw.

Ein guter Wille, d. h. ein durch und durch rationaler Wille gehört für Kleist ins Reich der Legende.

HAUPTTEIL

Prinz Friedrich von Homburg, Reitergeneral des brandenburgischen Heeres in der Schlacht bei Fehrbellin, hat sich der Insubordination schuldig gemacht, indem er sein Regiment wider ausdrücklichen Befehl des Kurfürsten auf eigene Verantwortung hat angreifen lassen.

In der historischen Vorlage ist von einer Insubordination des Landgrafen von Homburg keine Rede. Erst Friedrich der Große hat die Dinge in dieser Weise dargestellt, um seinen Ahnherrn, den Großen Kurfürsten, noch „größer“ erscheinen zu lassen. Der Kurfürst beweist nämlich den Großmut, der eines Herrschers würdig ist, und sieht dem „leichtherzig[en]“ Landgrafen von Homburg den Ungehorsam nach: „Wenn ich Euch nach der Strenge der Kriegsgesetze richten würde, hättet Ihr das Leben verwirkt. Aber verhüte Gott, dass ich den Glanz eines solchen Glückstages beflecke, indem ich das Blut eines Fürsten vergieße, der ein Hauptwerkzeug meines Sieges war.“

Der Kurfürst in Kleists Schauspiel dagegen handelt gewissenhaft „nach der Strenge der Kriegsgesetze“ und lässt den Prinzen vor das Kriegsgericht bestellen. Das Gericht beschließt das Todesurteil. Das stößt auf Widerstand bei den Offizieren. Eine Bittschrift zugunsten des Prinzen wird aufgesetzt und von allen Kommandanten unterschrieben. Prinzessin Natalie selbst verwendet sich für den Prinzen und bekommt vom Kurfürsten eine Antwort, die auf den ersten Blick gesehen positiv ausfällt.
Der Prinz hat inzwischen bei der Kurfürstin um Gnade gefleht.

Der vorliegende Auftritt spielt im „Gefängnis des Prinzen“. Prinzessin Natalie händigt dem Prinzen die Antwort des Kurfürsten aus.

Der Auftritt lässt sich in folgende Abschnitte gliedern:
V. 1300–1304: Mitteilung über die Begnadigung des Prinzen,
V. 1305–1313: Berechtigte Zweifel des Prinzen und gemeinsames Lesen des Briefes,
V. 1314–1330: Wiederholtes Drängen der Prinzessin auf die Annahme der Begnadigung,
V. 1331–1337: Erneuter Zweifel des Prinzen und Vernichtung des ersten Antwortschreibens,
V. 1338–1342: Vollständige Erkenntnis des Prinzen über den Inhalt des Briefes,
V. 1343–1373: Auseinandersetzung über eine angemessene Antwort,
V. 1374–1378: Endgültige Antwort des Prinzen.

Die Strategie der Prinzessin: Überredung und Verschleierung

Die Strategie der Prinzessin liegt auf der Hand. Sie will den Prinzen aus der Haft befreien, indem sie ihn überredet, auf die Bedingung des Kurfürsten einzugehen. Schneller als der Prinz hat nämlich Natalie die Bedingung innerhalb der Begnadigung erkannt (Nebentext nach V. 1313: „Natalie erblasst. Pause. Der Prinz sieht sie fragend an.“).

Dabei liegt Natalie daran, dem Gnadengesuch des Prinzen jeden Anschein von Ehrlosigkeit zu nehmen. Sie ahnt nämlich, wie schwer es dem Prinzen fallen muss, die Gnade des Kurfürsten gewissermaßen einzuklagen, indem er sich auf erlittenes Unrecht beruft.

Als sich der Prinz niedersetzt, um seine Antwort an den Kurfürsten zu formulieren, legt sie ihm kurz und pointiert ihre Sicht der Dinge dar.

V. 1368–1373:
„Kannst Du dem Rechtsspruch, edel wie Du bist,
Nicht widerstreben, nicht ihn aufzuheben,
Tun, wie er’s hier in diesem Brief verlangt:
Nun so versichr’ ich Dich, er fasst sich Dir
Erhaben, wie die Sache steht, und lässt
Den Spruch mitleidsvoll morgen dir vollstrecken!“

Das ist deutlich gesprochen. Außerdem offenbart es, dass Natalie ihre Taktik geändert hat. Sie scheint die Beweggründe des Kurfürsten zu kennen. Sie weiß außerdem, dass er „erhaben“, also mitleidslos (Sarkasmus in V. 1373: „mitleidsvoll“) das Urteil vollstrecken wird.

Die Reaktion des Prinzen: Wachsender Eigensinn

Zunächst ist der Prinz durchaus bereit, den Wünschen der Prinzessin zu entsprechen. Er verwirft jedoch seine erste Antwort an den Kurfürsten, weil sie ihm unehrenhaft erscheint (V. 1334–1335: „Pah! – Eines Schuftes Fassung, keines Prinzen. – / Ich denk mir eine andre Wendung aus“).

Das Gespräch nimmt eine Wende, als der Prinz den Brief ein zweites Mal zur Kenntnis nimmt. Nun zeigt er sich entschlossener, aber auch ehrbezogener als zuvor. Sein Selbstwertgefühl wächst derart, dass er sich „leidenschaftlich vom Stuhl“ (V. 1353, Nebentext) erhebt und Natalie in ihre Schranken weist: „Du hast des Briefes Inhalt nicht erwogen!“ (V. 1354), welcher Vorwurf die unverbesserliche Naivität des Prinzen offenbart, hat doch die Prinzessin die in dem Brief enthaltene Bedingung viel schneller als er selbst erkannt.

Im Folgenden ist dem Prinzen vor allem daran gelegen, seinen guten Willen unter Beweis zu stellen. Dafür setzt er sich wieder an den Tisch.

Natalies Äußerungen enthalten deutliche Hinweise auf die ihnen zugrunde liegenden Motive. Sie drängt (V. 1333: „Geschwind! Setzt Euch! Ich will es Euch diktieren!“), sie fleht (V. 1314: „Nun denn, da steht’s! Zwei Worte nur bedarf’s –!“), sie droht (V. 1330: „Schreibt, wenn Ihr mich nicht böse machen wollt!“). Natalies Not, ihre Furcht davor, den Prinzen zu verlieren, teilt sich in jedem Ausrufungszeichen mit. So häufen sich die Imperative, die abgerissenen Sätze.

Auffällig ist der Ausdruck „Gleichviel!“ (V. 1374). Er verrät, dass dem Prinzen an einer rationalen Auseinandersetzung mit der Prinzessin gar nicht gelegen ist. In dem Augenblick, als er sich seiner Haltung dem Kurfürsten gegenüber gewiss ist, als sich sein Standesbewusstsein gefestigt hat, sind ihm die Argumente der Prinzessin schon wieder gleichgültig.

SCHLUSS

STELLUNGNAHME

Eisenbeis zufolge wird das Selbstbewusstsein des Prinzen gestärkt, weil er zum Richter über sich selbst bestellt wird. Allerdings ist der Prinz kein unbefangener Richter. Ein Freispruch in eigener Sache würde für den Prinzen dem soldatischen Ehrenkodex gemäß Schande bedeuten. Dieser Aspekt bleibt in Eisenbeis‘ These unberücksichtigt. Selbstbewusstsein muss in erster Linie als Standesbewusstsein aufgefasst werden, als das Gefühl des Offiziers von seiner standesgemäßen Ehre.

Unter der Last des ihm auferlegten Dilemmas, behauptet Eisenbeis im vorliegenden Textauszug, gelingt es dem Prinzen, die Motive des Kurfürsten adäquat zu erfassen. Diese Behauptung könnte bestehen bleiben, gesetzt den Fall nämlich, der Prinz wäre zu einem rationalen Urteil in der Lage. Doch diese Annahme lässt sich nirgends stützen. Der Prinz urteilt und handelt stets intuitiv, „vom Herzen“ (vgl. V. 475).

Froben handelt im Unterschied zum Prinzen aus Sorge für Andere, nicht für sich selbst.

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