Spiegel des Humanen

Wie wird Orest geheilt?

Das Befremden, mit dem Iphigenie und Orest einander begegnen, ist von der gleichen Art wie das Befremden, mit dem ein Mensch sein Spiegelbild betrachtet. Für Orest ist Iphigenie ebensowenig greifbar, wie eine Reflexion im Spiegel greifbar ist. Für Goethe offenbart der Spiegel das so genannte Doppelgesicht. So erkennt der wahnsinnige Orest anfangs nicht die Schwester in dem Gesicht der Schwester, sondern nur die Furie, allgemeiner gesagt: nur das strafend Göttliche darin (V. 1169–1171: „Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin? / Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich / Das Innerste in seinen Tiefen wendet?“). Ist das Spiegelbild aber von dem schrecklichen Bild der Rachegöttin bestimmt, ist der Weg zur Erkenntnis des Orakels verstellt: „Bringst du die Schwester, die an Tauris‘ Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt, / Nach Griechenland; so löset sich der Fluch“ (V. 2113–2115). Solange Orest im Bild der Schwester nur das strafend Göttliche erfährt, ist seine Erlösung vom Familienfluch nicht möglich. Die Gottesebenbildlichkeit der Schwester erweist sich aber gerade darin, dass sie dem Bruder trotz seiner Schuld vergibt (vgl. Herders Leitidee der Gottesebenbildlichkeit). Orests Befremden gegenüber dem Spiegel (vgl. Lethefluss als Spiegelmetapher) weicht also der Freude, als er in der Schwester das vergebend Göttliche erkennt – die humane Seite des Menschen.