Die Ablösung des ptolemäischen Denkens –

20131225-213226.jpg

Oder: Galileis Vergnügen an der neuen Welt

Bertolt Brecht: Leben des Galilei (1943), 3. Bild, Gespräch zwischen Galilei und Sagredo (Textgrundlage: Suhrkamp Basisbibliothek, Band 1)

In dem Theaterstück „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht, das im Jahr 1943 uraufgeführt worden ist, geht es um nichts weniger als um eine wissenschaftliche Revolution: die Ablösung des ptolemäischen durch das kopernikanische Weltbild. Titel- und Hauptfigur ist der italienische Mathematiker und Astronom Galileo Galilei.

In der dritten Szene kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Galilei und dem Kurator der Universität Padua, bei der Galilei seit 1592 als Mathematikprofessor im Dienst steht. Gegenstand der Auseinandersetzung ist das Teleskop, von dessen Verkauf sich der Kurator beträchtliche Einnahmen für die Universität versprochen hat. Das Gespräch zwischen Galilei und dem Kurator scheitert, weil es unterschiedlichen Sichtweisen folgt: Während Galilei das Teleskop vor allem als Hilfsmittel für die Forschung betrachtet, hat es für den Kurator rein ökonomischen Wert.

Vor dem Streit mit dem Kurator hat Galilei mit seinem Freund Sagredo den Himmel mit Hilfe des von Galilei verbesserten Teleskops betrachtet. Das Teleskop ermöglicht es Galilei, nicht nur die einzelnen Planeten, sondern auch ihre Trabanten, die sie begleitenden Monde und ihre Bahnen zu erforschen. Aus der wiederholten Beobachtung von vier Jupitermonden folgert Galilei, dass die Monde um den Jupiter sich nicht anders verhalten als der Mond im Orbit der Erde. So sieht er berechtigten Grund zu der Annahme, dass die Erde ebenso ein Planet wie der Jupiter sei.

Galilei ist sich darauf sicher, dass Kopernikus‘ Hypothesen, kurz gesagt: das heliozentrische Weltbild beweisbar ist. Nachdem der Kurator enttäuscht und wütend den Raum verlassen hat, fährt Galilei fort, seinem Freund die Gestirne mithilfe des Fernrohrs zu erläutern. Dabei teilt er ihm seine neuen Erkenntnisse mit.

Was sich von Beginn an mitteilt, ist Galileis Begeisterung: Er findet die Lehren der Kopernikaner bestätigt (S. 34, Z. 25: „Sie hatten recht!“; vgl. S. 34, Z. 27–28, Z. 35–36). Von dieser Begeisterung Galileis ist das gesamte dritte Bild bestimmt. Immer wieder verweist der Wissenschaftler auf den Stellenwert seiner neuen Beobachtung und gibt sich Mühe, auch Sagredo mit seiner Begeisterung anzustecken (S. 34, Z. 32: „Sagredo, du sollst dich aufregen!“; vgl. Z. 35–36). Doch dieser reagiert verhalten, ja sogar besorgt und ängstlich (S. 34, Z. 23: „Beruhige dich!“; vgl. Z. 31; S. 35, Z. 1–2: „ich zittere, es könnte die Wahrheit sein“). Galilei denkt nun daran, Andrea an seiner Freude über die Neuigkeiten am Himmel teilhaben zu lassen (vgl. S. 34, Z. 28–30). Vermutlich wird der Elfjährige Galileis neu entfachten Idealismus begeisterter als Sagredo aufnehmen (vgl. Bild 1). So ruft Galilei aufgeregt nach Frau Sarti (vgl. S. 34, Z. 29–30, Z. 32). Die Neuigkeiten am Himmel – so lässt sich der Beginn des vorliegenden Textauszugs zusammenfassen – lösen bei Galilei Euphorie aus, stellen sie doch für ihn eine wissenschaftliche Revolution dar, nämlich die Beweisbarkeit des kopernikanischen Systems.

Als Sagredo das Fernrohr beiseite dreht (vgl. S. 34, Z. 33, Nebentext), nimmt das Gespräch eine Wende. Sagredo übernimmt die Gesprächsführung, um seinen Freund zur Rede zu stellen. Dabei liegt ihm vor allem daran, den aufgeregten Galilei auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen (S. 35, Z. 4: „Hast du allen Verstand verloren?“). Für Sagredo liegt es auf der Hand, was für schreckliche Folgen sich aus dem kopernikanischen Weltbild ergeben. So befürchtet er zu Recht, dass in einem naturwissenschaftlichen Weltmodell, das nur Gestirne als Koordinaten voraussetzt (S. 35, Z. 12: „Daß da also nur Gestirne sind!“), kein Platz für Gott sei. Dieses Problem liegt Sagredo auf der Seele, und er schleudert seinem Freund die Frage nach Gott entgegen (S. 35, Z. 12: „Und wo ist dann Gott?“; vgl. Z. 15, 19; Z. 21–22: „Und ich frage dich, wo ist Gott in deinem Weltsystem?“). Galilei zögert die Antwort hinaus (S. 35, Z. 14: „Was meinst du damit?“; Z. 20: „Bin ich Theologe?“). Er hat sich jedoch eine Antwort zurecht gelegt – eine Antwort, die sein Gesprächspartner schon kennt, vor der er bereits gewarnt worden ist (vgl. Bild 3, S. 30, Z. 22–24), die Auffassung Giordano Brunos nämlich, eine pantheistische Deutung des Universums und des Menschen (S. 35, Z. 23: „In uns oder nirgends!“). Sagredos Reaktion spiegelt sein Entsetzen über Galileis Naivität wider.

Die Regieanweisungen schreiben vor, wie er Galileis Äußerungen aufnimmt: „schreiend“ (S. 35, Z. 24) und „ungläubig“ (S. 36, Z. 2). Beide Reaktionen sollen höchstwahrscheinlich anzeigen, dass Sagredo seinem Freund gegenüber auf verlorenem Posten steht: Er wird Galileis Euphorie, seine Wissenschaftsgläubigkeit nicht steuern können. Dabei markiert Sagredos entsetzter Aufschrei: „Wie der Verbrannte gesagt hat?“ (S. 35, Z. 24) den Höhepunkt des vorliegenden Szenenausschnitts. Die Warnung, dass Galilei als Ketzer das gleiche Schicksal wie Giordano Bruno erleiden könnte, verfehlt jedoch ihre Wirkung.

Das Gespräch verläuft im Übrigen ähnlich wie das Gespräch mit dem Kurator. Galilei zeigt sich unbeeindruckt von der Kritik seines jeweiligen Gesprächspartners. Am Ende des vorliegenden Textes wird das Gespräch daher logischerweise wieder von Galilei bestimmt. Der Wissenschaftler lässt sich wieder auf die Rolle des Lehrers ein, der seinen ungläubigen Freund und Schüler zum Glauben an die Vernunft bekehren möchte: „Sieh her, Sagredo! Ich glaube an den Menschen, und das heißt, ich glaube an seine Vernunft!“ (S. 36, Z. 4–6).

Sagredos Reaktion auf die Erkenntnisse Galileis erklärt sich aus seinem Wissen um den Unterschied zwischen Vernunft und Schlauheit. Schlauheit besteht für ihn in einer Art Verstellung. In Bezug auf Galilei nimmt er z. B. an, dass dieser sich verstellt habe (vgl. S. 35, Z. 30–36). Er glaubt fälschlicherweise, dass Galilei sich an der Universität als Ptolemäer ausgegeben habe, um sich nicht mit der herrschenden Meinung zu überwerfen (S. 35, Z. 34–36: „Du hast es für falsch gehalten mit dem Kopernikus, aber du hast es gelehrt“). Als er seinen Irrtum bemerkt, bekommt er es mit der Angst zu tun. Sagredo muss befürchten, dass seinem Freund das gleiche Schicksal widerfährt wie Giordano Bruno.

Auch Galilei weiß um den Unterschied zwischen Vernunft und Schlauheit (S. 36, Z. 22–25: „Ich weiß, sie nennen den Esel ein Pferd, wenn sie ihn verkaufen, und das Pferd einen Esel, wenn sie es einkaufen wollen. Das ist ihre Schlauheit“). Aber in seiner Freude über die erhoffte Ablösung des alten Weltbildes hält er es für gerechtfertigt, an eine andere „Schlauheit“ zu glauben – nämlich Schlauheit, die sich als Vorsorge, als lebensdienliche Klugheit erweist (vgl. S. 36, Z. 25–31). Sagredo spricht aus bitterer, vierzigjähriger Erfahrung (vgl. S. 36, Z. 8–15), Galilei dagegen als Visionär einer neuen Gesellschaftsform. Das Vergnügen am Denken führe laut Galilei zu einem neuen Bewusstsein (vgl. S. 37, Z. 1–5).