Der Sonderfall Hiob

Joseph Roths „Roman eines einfachen Mannes“

1930 kommt Joseph Roths „Roman eines einfachen Mannes“ heraus. Es ist das Jahr der großen Krise, die wirtschaftliche Not ist unvorstellbar, die Tumulte der Arbeitslosen steigern sich ins Maßlose, auf dem Kurfürstendamm in Berlin werden Mittagessen auf Teilzahlung angeboten, die Polizei geht mit Gummiknüppeln gegen Aufständische vor. Die Armut treibt viele in den Selbstmord, in der Wall Street in New York springen Banker aus dem Fenster. Im Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten, von denen sich dieser Roman scharf unterscheidet, zielt der Schriftsteller diesmal nicht auf eine Darstellung der Not, wie sie den Vorstellungen der Neuen Sachlichkeit entspricht. Er nähert sich nicht den Tatsachen, wie Alfred Döblin („Los vom Menschen! Mut zur kinetischen Phantasie und zum Erkennen der unglaublichen realen Konturen! Tatsachenphantasie!“) und andere Schriftstellerkollegen es als bestimmende Aufgabe ihrer Epoche ansehen, sondern er widmet sich – der volle Titel seines Romans verrät es schon – dem scheinbar Abseitigen, dem Nacherzählen biblischer Dichtung.

Mit dem Buch Hiob liegt dem „Roman eines einfachen Mannes“ ein theologischer Text zugrunde. Seine Aussage ist: Wäre Gott gerecht mit Hiob verfahren, dann ließe sich genau sagen, warum dieser Hiob sich Gott unterwirft. Doch leider ist die positive Rechtfertigung Gottes, mit anderen Worten: die Vorstellung eines gerechten Gottes unmöglich. Das Hiobbuch entfaltet dem Leser kein traditionelles, positives Gottesbild, sondern negative Theologie. Wie Hiob ist Mendel Singer, die Titelfigur aus Joseph Roths Roman, von einer tiefen, urwüchsigen Frömmigkeit geprägt; wie Hiob bezieht Mendel Singer – der Name deutet es an – seine Frömmigkeit hauptsächlich aus dem Singen von Gebeten und Psalmen. Er ist kein Gelehrter, der völlig im Studium aufgeht, kein Rabbiner, eifrig darum bemüht, die rechte Lehre zu verteidigen. Wie Hiob erweist sich Mendel Singer anfangs als Dulder.

Die Welt ist Gottes Wille, und es gibt keinen Grund, an seiner Schöpfung zu zweifeln. Gottes Weisheit ist den Menschen fremd wie die Sterne und doch ein Feuer, das den Weg in der Nacht erhellt. In diesem Sinne wendet sich Mendel Singer – in einer Schlüsselszene in dem ersten Teil des Romans – an Menuchim, seinen jüngsten Sohn, damit er diese Anschauung von ihm übernehme. „Hör mich, Menuchim! Ich bin alt, du bleibst mir allein von allen Kindern, Menuchim! Hör zu und sprich mir nach: ‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …‘“ (Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Schöningh Verlag: Paderborn 2012, S. 35). Was den Unterricht in der Tora (תוראה: Lehre) angeht, so ist klar, dass damit ein elementares Verhältnis zwischen Vater und Sohn bezeichnet wird. Ferner, dass Mendel Singer damit in der Tradition aller jüdischen Väter steht, denn er erfüllt den im Buch Deuteronomium enthaltenen Auftrag, der sich an alle Väter richtet:

„Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben“ (Dtn 6,4–9).

Die Entwicklung, die Mendel Singer anders als Hiob zurücklegt, ist allerdings die Entwicklung eines einfachen Mannes. Das heißt, der Roman setzt damit ein, die Armut in Mendels Familie zu schildern. Und wie zu erwarten, wird Mendel Singer, anders als Hiob, anfangs nicht mit Hiobsbotschaften konfrontiert. Denn sein Schicksal ist bereits von Armut bestimmt, es kann für ihn eigentlich nicht viel schlimmer kommen. Joseph Roths Hiobsroman handelt in seinem ersten Teil von der Armut, von dem ewigen Kreislauf der Not. Es kommt nur, anders als in der biblischen Vorlage, nicht zu dem Pakt mit dem Teufel, in dem die Not ihre Erklärung fände.

Da Mendel Singer keine größere Sünde bei sich findet, so ist es selbstverständlich, dass Armut für ihn keine Schande darstellt. Als jedoch sein jüngster Sohn Menuchim im Unterricht der Tora kläglich versagt, regen sich Zweifel und Schuldgefühle in seinem Vater. Denn Mendel Singer ist, in Anlehnung an Jakob aus den Vätergeschichten, vor allem darauf gerichtet, JHWH als Familiengott zu verehren, welcher ihm Nachkommen „zahlreich wie der Staub der Erde“ (Gen 28,14) verspricht. Mendel Singer muss befürchten, als Vater schuldig geworden zu sein.

Arbeitsanregungen:

  • Bestimmen Sie die Gottesbilder bei Deborah und Mendel Singer. Worin unterscheiden sie sich?
  • Versuchen Sie Deborah zu helfen: Erarbeiten Sie in einem Gespräch mit Deborah, was sie an Mendel, insbesondere an seinem Glauben, auszusetzen hat.