Form ist Ausdruck

Weiblicher Expressionismus

Immer wieder wird man versuchen, den Expressionismus als in sich geschlossene Entwicklung zu begreifen. Man spricht gern davon, dass er als Reaktion zu verstehen sei, als Aufschrei junger Künstler gegen die unerträglichen, chauvinistischen Zustände im deutschen Kaiserreich. Formal ist mit dem Begriff „Expressionismus“ die Verzerrung der Raumanschauung, die kubische Darstellung der Details und die damit verbundene Auflösung der Struktur gemeint – die Absage an realistische Gestaltungsprinzipien. Über das Recht, den Begriff so zu vereinheitlichen, muss nicht diskutiert werden, denn es gibt durchaus diese Übereinstimmungen innerhalb des Expressionismus. Interessant ist allerdings der Versuch, die Stimme der Frau innerhalb dieser Entwicklung wahrzunehmen – der Expressionismus nämlich scheint, abgesehen von Else Lasker-Schüler, einheitlich männlich zu sein.

Das folgende Gedicht – um einmal eine andere Autorin vorzustellen – stammt von Henriette Hardenberg. Bei diesem Text hat der Leser den Eindruck, als ob ein Ausdruckstanz vorgeführt würde. Der Text ist durchsetzt von Körpermetaphern: Der überdehnte, überspannte Körper (vgl. V. 4) wird Ausdruck einer großen, kollektiven Sehnsucht nach „Freiheit“ (V. 1).

Henriette Hardenberg
Wir werden (1913)

Wir werden herrlich aus Wunsch nach Freiheit.
Der Körper dehnt sich,
Dieses Zerrende nach geahnten Formen
Gibt ihm Überspannung.
Schwere Hüften schauern sich zu langem Wuchse.
Im Straffen beben wir vor innerem Gefühl —
Wir sind so schön im Sehnen, daß wir sterben könnten

Es zeigt sich: Das Gedicht verzichtet auf Reim und Rhythmus. Auch in anderer Beziehung ergibt sich eine Abkehr von traditionellen Gedichtformen. Das Gedicht setzt sich aus parataktisch gereihten Sätzen zusammen, deren Länge variiert, die nur infolge des Zeilenumbruchs wie Verse erscheinen. Das Gedicht ist so gesehen gewiss ein modernes Gedicht. Aber ist es auch ein expressionistisches Gedicht?

Der Anfang mutet gar nicht so an: „Wir werden herrlich aus Wunsch nach Freiheit“ (V. 1). Nun kann man „herrlich“ werden aus verschiedenen Gründen. So hat 1892, pathetisch genug, Kaiser Wilhelm II. dem deutschen Volk verkündet: „Zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Zeiten führe ich euch entgegen.“ Was damit gemeint war, wird erst nach dem Zweiten Weltkrieg klar: der „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918, Düsseldorf 1961).

Ist das etwa Expressionismus? Selbstherrliches Gerede über die Kraft des eigenen Willens? Wie wäre es, ein Weiteres anzunehmen? Dann wäre nämlich in Hardenbergs Gedicht eine explizit weibliche Stimme vernehmbar. Und dann ergibt sich: Die Frau geht genau dann „herrlichen Zeiten“ entgegen, wenn sie Herrin über ihren Körper wird. Vermutlich ist der Autorin daran gelegen, eben dies umzudeuten, was deutscher Großmannssucht und Burschenherrlichkeit so vertraut in den Ohren klingt. Deutsche Herrlichkeit – dieser Begriff, wie von Wagner durchkomponiert, wird auf den (weiblichen) Körper projiziert.

Ausdruckstanz!
Der expressionistische Diskurs ist durchsetzt von Körpermetaphern:
„Wir sind so schön im Sehnen!“