„Choc, Trauma und Nervosität“

Expressionismus und Zeiterfahrung

Bereits in der Antike hat man sich über das zunehmende Tempo beklagt: Früher ritt man gemächlich zu Pferde, heute führt man Viergespanne. „Heute hat sich die Reitkunst ins Dämonische verkehrt“ (vgl. Tertullian: De spectaculis 9, 1).

Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich, wie die Geschichtswissenschaft betont, mit der technischen Entwicklung auch die Wahrnehmung der Zeit. Das intuitive Erlebnis einer vorbeifahrenden Straßenbahn mit einer Geschwindigkeit von 15 km/h zum Beispiel ist heute von anderer Qualität als 1913. Man kennt zwar schon die Straßenbahn – zunächst wird sie von Pferden gezogen –, aber die Wahrnehmung der Straßenbahn ist, geschichtlich bedingt, anders, als es heute erfahren wird. Der Historiker Jörn Leonhard schreibt dazu: „Im Unterschied zur Phase nach 1800 entwickelte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine ganz neue Qualität der Zeiterfahrung bei gleichzeitiger subjektiver Wahrnehmung schrumpfender Räume. Dazu trugen technische Errungenschaften bei: Verkehrsverdichtung und Beschleunigung standen am Ende des Jahrhunderts im Zeichen von Dampfschiffen, Eisenbahnen und Automobilen, welche die mit natürlicher Antriebskraft getriebenen Segelschiffe und Kutschen zu ersetzen begannen […] Aber diese Entwicklungen konfrontierten viele Zeitgenossen auch mit neuartigen Krisensymptomen; die historisch erfahrene Zeit und die eigene, individuell-biografische Zeiterfahrung traten immer weiter auseinander. Chiffren dieser Entwicklung waren am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zufällig der ‚Zählzwang‘ und die ‚Eilkrankheit‘ der Protagonisten aus Robert Musil Romanen und Erzählungen, und vor allem ‚Choc‘, ‚Trauma‘ und ‚Nervosität‘ als Symptome einer krankhaften Zeit“ (Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, 24–25).