Er sieht immer so verhetzt aus –

Woyzeck: Rasierszene

EINLEITUNG

In Georg Büchners 1837 entstandenem, der Epoche des Vormärz zuzuordnendem Dramenfragment „Woyzeck“, das der Autor aufgrund seines frühen Todes nicht vollendet hat, wird erstmals in der Literaturgeschichte ein Mitglied der sozialen Unterschicht zur tragischen Hauptperson. Büchners Text veranschaulicht am Beispiel der Lebensumstände des hessischen Soldaten Franz Woyzeck die bedrückenden Lebensumstände in der Zeit zunehmender Industrialisierung in Deutschland, durch die es möglich gemacht wird, dass Menschen deformiert und zum Äußersten getrieben werden.

Dem Drama liegt ein historischer Fall zugrunde: Der Arbeitslose Johann Christian Woyzeck ersticht seine Geliebte. In Büchners Drama ist es der Stadtsoldat „Franz“ Woyzeck – ein Soldat der Unterschicht, ein so genannter „Pauper“ – , der seine Geliebte Marie Zickwolf aus Eifersucht ersticht, da sie ihn mit einem Offizier, dem Tambourmajor, betrogen hat. Franz und Marie haben ein gemeinsames Kind im Alter von zwei Jahren.
Franz sichert den Lebensunterhalt seiner kleinen Familie, indem er zahlreichen Nebenbeschäftigungen nachgeht. Unter anderem nimmt er im Zuge eines menschenverachtend zu nennenden, wissenschaftlichen Experiments eine Erbsendiät auf sich, die seine Gesundheit zerstört und Wahnvorstellungen hervorruft. Des Weiteren verrichtet Woyzeck verschiedene Aufgaben für den Hauptmann.

Die vorliegende Szene zeigt Woyzeck bei der Rasur des Hauptmanns. Der Hauptmann nimmt die Gelegenheit wahr, Woyzeck zur Ruhe zu ermahnen. Er solle sich die Arbeit einteilen. Woyzeck wirkt geistesabwesend und rasiert mechanisch weiter. Als aber der Hauptmann in seiner Klage fortfährt und Woyzeck persönlich angreift und ihm Vorwürfe wegen seines unehelichen Kindes macht, kann er dem Gespräch nicht mehr ausweichen. Zu diesem Zeitpunkt hat Woyzeck bereits den Verdacht geschöpft, dass Marie ihm untreu ist. Im weiteren Verlauf der Handlung wird deutlich, dass Woyzeck damit Recht hat: Marie und der Tambourmajor haben in der Tat ein Verhältnis miteinander. –

Die Rasur ist beendet. Der Hauptmann hat das Gespräch eröffnet und schließt es auch ab. Woyzeck wird nach getaner Arbeit entlassen und ein weiteres Mal zur Langsamkeit ermahnt.

Ich habe die Szene in folgende Abschnitte eingeteilt.
Z. 1–15: Rasur des Hauptmanns durch Woyzeck, Beschwerde und Klagen des Hauptmanns,
Z. 15–27: Ins Persönlich gehende Anschuldigungen des Hauptmanns,
Z. 28–36: Rechtfertigungen Woyzecks,
Z. 37–47: Beiderseitige Bemerkungen zur Moral,
Z. 48–50: Entlassung Woyzecks durch den Hauptmann.

HAUPTTEIL

Bei der Analyse der Rasierszene werde ich mich vor allem mit dem Aspekt der Arbeit befassen und mich dabei von der Frage leiten lassen, welchen Stellenwert die Arbeit bei den am Gespräch beteiligten Figuren hat.

Mittelpunkt des vorliegenden Szenenbildes ist der Rasierstuhl: Woyzeck rasiert den Hauptmann. Der kleine Mann setzt das Messer an die Kehle des großen Mannes, ohne ihm jedoch Gewalt anzutun. – Die wird Woyzeck zuletzt Seinesgleichen zufügen. – Wie zu erwarten, bläst der Hauptmann Trübsal, beschwert sich über Woyzecks Unruhe, grübelt über Zeit und Ewigkeit – ohne Verstand, in abgerissenen Sätzen. Woyzeck nimmt sein Gerede hin (Z. 8.15: „Ja wohl, Herr Hauptmann“). Mag der Hauptmann auch darüber klagen, Zeit im Überfluss zu haben (Z. 4–5: „Was soll ich dann mit den zehn Minuten anfangen, die er heut zu früh fertig wird?“), und Betätigung mit Blick auf die Ewigkeit für nutzlos halten (Z. 10: „Beschäftigung, Woyzeck, Beschäftigung! ewig das ist ewig, das ist ewig, das siehst du ein“), Woyzeck, das „Arbeitstier“ – Woyzeck, der jede erdenkliche Arbeit auf sich nimmt und darunter zugrunde geht – nimmt die Beleidigung hin. – Ist es denn keine Beleidigung, wenn der Hauptmann damit angibt, mit zehn Minuten freier Zeit nichts anfangen zu können, während Woyzeck jede Minute nutzen muss, um das Lebensnotwendige für sich und seine Familie aufzubringen? – Unter dem Aspekt der Arbeit betrachtet, ergibt sich, dass Woyzeck auch in dieser Szene trotz all der ausgesprochenen und unausgesprochenen Beleidigungen, Anschuldigungen und peinlichen Bemerkungen des Vorgesetzten „funktioniert“, wie es von ihm gefordert wird. Woyzeck rasiert den Vorgesetzten wie eine Maschine.

Für den Hauptmann dagegen ist die Arbeit mit weniger Mühe verbunden. Er muss seine Arbeitskraft nicht verschwenden. Er hat sogar Zeit, am Fenster den Mädchen nachzuschauen, bis ihm die „Liebe“ kommt (vgl. Z. 38–40). Darüber hinaus besitzt er ausreichend finanzielle Mittel, um andere für sich arbeiten zu lassen. Seine „Arbeit“ als Hauptmann ermöglicht es ihm, sich als „Herr“ über andere aufzuspielen. Dass er diese Gelegenheit weidlich ausnutzt, geht aus dieser Szene deutlich hervor.

Das „Gespräch“ in dieser Szene, wenn es überhaupt diesen Namen verdient, wird durchweg vom Vorgesetzten dominiert. Der Hauptmann spricht mit Woyzeck wie mit einem Kind (Z. 3: „Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern“; Z. 10: „Ewig das ist ewig, das ist ewig, das siehst du ein“). Ein Gesprächs-„Ziel“ – das gemeinsam verfolgt werden müsste – kann nicht ermittelt werden. Aus den genannten Gründen kann von „asymmetrischer“ Kommunikation gesprochen werden.

Die Analyse der sprachlichen Mittel bestätigt den Befund. So finden sich unterschiedlichste Elemente der „Herrschaftssprache“: beispielsweise die häufige Verwendung von Imperativen (Z. 7: „Teil er sich ein, Woyzeck“; Z. 17: „Red‘ er doch was Woyzeck“; u. ö.), Abwertungen (Z. 16: „Woyzeck er sieht immer so verhetzt aus“; Z. 23: „O er ist dumm, ganz abscheulich dumm“; u. ö.). Auch das Gegenteil lässt sich nachweisen: Sprache, die Unterwürfigkeit zum Ausdruck bringt, beispielsweise mithilfe von Gehorsamsfloskeln (Z. 8.15: „Ja wohl, Herr Hauptmann“), Demutsfloskeln (Z. 33: „Wir arme Leut“; Z. 43–44: „wir gemeinen Leut“) und einer sprechenden Metapher (Z. 28: „de arme… Wurm“).

SCHLUSS

„Dem Bourgeois ist der Arbeiter weniger als ein Mensch“. Diese Feststellung Friedrich Engels hinsichtlich des Ansehens der Arbeiter in England wird durch die Rasierszene bestätigt. Friedrich Engels Beobachtungen beziehen sich auf die englischen Verhältnisse in den vierziger Jahren. Georg Büchner greift die deutschen Verhältnisse der Zeit auf und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Im vorliegenden Drama haben sie ihren künstlerischen Ausdruck gefunden.

WEITERER SCHREIBAUFTRAG

Woyzeck und der Hauptmann werden als Figuren völlig verschieden gestaltet. Während Woyzeck differenziert ausgestaltet erscheint und trotz aller Benachteiligungen als „round character“ aufzufassen ist, hat der sozial privilegierte Hauptmann die Kennzeichen des „flat character“, ja sogar die Merkmale eines ins Lächerliche gesteigerten Typen erhalten. Dieser Eindruck wird durch viele Beobachtungen verstärkt: Die selbstgefälligen Bemerkungen des Hauptmanns sind beispielsweise gekennzeichnet durch zahlreiche Gedankenabbrüche, Phrasendrescherei, Tautologien (Z. 10: „Beschäftigung, Woyzeck, Beschäftigung! ewig das ist ewig, das ist ewig, das siehst du ein“; u. ö.).

Es liegt nahe anzunehmen, dass diese satirische Zuspitzung des Textes bewusst vorgenommen worden ist, um die realen Herrschaftsverhältnisse des historischen Kontextes ins Gegenteil zu verkehren: So erscheint der Pauper Woyzeck wenigstens auf der Bühne glaubwürdiger und seinem Vorgesetzten überlegen.

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