Zur Nacht gehört die Antithese

Andreas Gryphius‘ Sonett „Abend“

Die barocke Angst entspringt der Erkenntnis, dass alles im Leben verdreht ist, wenn es keinem höheren Zweck mehr dient. Es gibt Gedichte, die das zum Ausdruck bringen, wie Andreas Gryphius‘ Sonett „Abend“. Dieses Gedicht aus dem Tagzeitenzyklus hat einen Ernst, der einem Tattoo glänzend zu Gesicht stünde. Denn das Gedicht ist in eminentem Sinne emblematisch. „Emblematisch“ bedeutet hier nicht nur „bildlich“, sondern „bildsprachlich“. Das Emblem macht aus dem in ihm enthaltenen Bild eine Aussage, meist moralischen Gehalts. Das barocke Gedicht weiß daher nicht viel von Gefühlen. So auch Gryphius‘ Abendgedicht. Es gibt keinen Mond in ihm. Alle Sterne sind gleich. Auch die barocke Angst ist kein Thema. Sie ist allenfalls ein Effekt, der sich beim impliziten Leser einstellen kann

Was ist stattdessen zu sehen in diesem Sonett? Nur die Nacht als seltsame Erscheinung, als Rätsel, das einer erkenntnismäßigen Lösung bedarf. Noch einmal: Mit der Aussage „Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn“ (V. 1) wird kein Gefühl bedient. Nur die Erkenntnis, dass alles gleichgültig ist. Ach, es ist so gleichgültig! So dass sich der Leser fragt, warum auch das „Licht“ (V. 6) dieser sinnlosen Laune unterworfen ist.

Was gibt es sonst über die barocke Angst zu sagen? Zur Nacht gehört die Antithese. Zum Licht gehört die Idee Gottes (vgl. V. 11), weil es kein Licht ohne ihn gibt. Weil die Schöpfung ohne Licht ihr Ziel verfehlt. Und um kurz einen Bogen zu einer prominenten emblematischen Bildsprache unserer versachlichten Epoche zu spannen: Erwächst dem Tattoo nicht die Notwendigkeit, vergleichbare das Leben bestimmende Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen?


Andreas Gryphius

Abend

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen
Verlassen feld und werck / Wo Thier und Vögel waren
Trawert itzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Lauffplatz gleiten
Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht lust / nicht angst verleiten.
Dein ewig heller glantz sei vor und neben mir /

Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen /
Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /
So reiß mich auß dem thal der Finsterniß zu dir.

Arbeitsanregungen:

  1. Erarbeiten Sie die Grundaussage von Gryphius‘ Sonett.
  2. Zeichnen Sie Ihr Lebens-Tattoo! Worin sehen Sie Ähnlichkeiten mit barocken Emblemen?
Lebens-Tattoo. Entwurf einer Schülerin, Q1.