„Faust“ in Thesen

Erste These:

Der „Faust“ liegt nicht als abgeschlossenes Werk vor.

Der Dichter verweist darauf bereits in der „Zueignung“, dem ersten „Portal“ der Dichtung. Er kann die Geister, die er als jugendlicher Dichter rief, nicht beschwören („Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten“, V. 31); der alte Dichter erkennt den vergeblichen „Wahn“ in dem Versuch, Figuren von der Größe Fausts festzuhalten (vgl. V. 3–4). Mit jedem weiteren „Portal“ – insgesamt sind es drei: „Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“ – wagt sich der Dichter von Neuem an die Frage, worin denn die Wahrheit des Werkes besteht, das er meint zu besitzen.

Correctio:

Der „Faust“ liegt zwar als äußerlich abgeschlossenes, vollendetes Werk vor, der Dichter nimmt jedoch Abstand von dem Anspruch, eine abgeschlossene Wahrheit in ihm zu vermitteln.

Zweite These:

Der „Faust“ ist ein offenes Drama.

Die von Goethe in seiner Jugend bevorzugte, geschlossene Form des Dramas löst sich bei dem alten Goethe wieder auf, und zwar eben im „Faust“, diesem in mehrfacher Hinsicht überdimensionierten Drama, das wie ein „Welttheater“ oder gar als „Theater über das Theater“ erscheint. Im „Faust“ kehrt Gustav Freytags Dramenschema gleich mehrfach wieder, im ersten Teil das erste Mal in der Gelehrtentragödie und das zweite Mal in der Gretchentragödie.

Anmerkung:

Der Direktor des „Vorspiels“ nimmt diesen Gedanken vorweg: Die ungebildete Menge wolle in offener Manier durch möglichst bunte Bilder unterhalten werden: „Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken“ (V. 99).

Dritte These:

Der „Faust“ enthält eine alte Theologie, die Leibnizsche Rechtfertigung Gottes.

Erster Teil:

Die prästabilierte Harmonie

Aufgrund ihres affirmativen Verhältnisses Gott gegenüber und ihrer Einheit untereinander wegen wäre es möglich, die Erzengel als Jasager zu bezeichnen. Ihre Botschaft lautet: Alles gut! Der Prolog zum „Faust“ zeigt so gesehen ein genrehaftes Bild. Was mag es Goethe gekostet haben, die Engel nicht Trompete blasen zu lassen! Das dritte Portal zum „Faust“, der „Prolog im Himmel“, enthält damit eine alte theologische Wahrheit: Gott wirkt weiterhin an seiner Schöpfung mit, harmonisierend, formgestaltend – und seine Werke sind „herrlich wie am ersten Tag“ (V. 270).

Anmerkung:

Besteht also keine Gefahr? Kommen nur Trost und Zuspruch von oben? Bricht sich keiner den Hals, der unter solch einem Himmel spazieren geht? Faust gibt insofern die beste Probe aufs Exempel ab: Er ist der Stuntman für das Gefährliche.

Zweiter Teil:

Die Theodizee

Der „Faust“ wäre nichts wert, hätte der Leser nicht die Möglichkeit, dem Teufel auf die Schliche zu kommen. Der agiert eingangs im „Prolog“ als Ankläger Gottes, scheinbar im Sinne der Menschen: „Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen / Ich mag sogar die armen selbst nicht plagen“ (V. 297–298). Es mag sein, dass Gott gütig ist – trägt Mephistopheles vor – doch beschirmt Gott der Allgütige und Allmächtige Faust, das Muster allen Strebens, auch dann noch, wenn dieser auf teuflische Wege geführt wird? Und Gott ist bereits vorgewarnt durch das Beispiel Hiobs, dem Gott Rede und Antwort stehen musste, als dieser sich über das ihm zugefügte Leid zu Recht beklagte.

Vierte These:

Faust mannigfache Lebensformen entsprechen unterschiedlichen Raumvorstellungen.

Erster Teil:

Die Alchimistenküche als begrenzter Raum

In der Literatur haben die Protagonisten mit zunehmender Spezialisierung auch verschiedene Raumvorstellungen gespiegelt. Faust in der Alchimistenküche denkt sich die Welt anders als sein verjüngtes Alter Ego. Zunächst hält er verbunden mit der Lehre von den vier Elementen die Vorstellung wach, dass alles aus einem Urstoff erschaffen worden sei, wie Thales, der dabei an das Wasser dachte. Heute ist die Vorstellung, dass das Wasser nicht nur alles auf der Erde, sondern sogar im Weltall entstehen oder zugrunde gehen lassen könnte, aufgelöst. Und Fausts Frage, „was die Welt / im Innersten zusammenhält“ (V. 382-383), würde, beim heutigen Stand der Naturwissenschaften, kein überlegenes Denken offenbaren, sondern zu unabsehbaren Diskussionen führen.

Fausts Bewusstsein zeigt sich außerdem von den „Einwirkungen“ magischer Zeichen bestimmt, dem Zeichen des Makrokosmos, des Erdgeistes usw. Allerdings haben diese Zeichen nicht auf die gleiche Art und Weise für ihn Bedeutung wie für deren „Erfinder“. Faust erscheint die Magie in einem anderen Licht als beispielsweise Paracelsus, Nostradamus oder Agrippa von Nettesheim, um nur drei der Quellen für Goethe zu nennen.

Zweiter Teil:

Fausts Weltreise

Der Besuch in der Hexenküche gehört zu der so genannten kleinen Weltfahrt Fausts – die zweite, große Weltfahrt wird im zweiten Teil der Tragödie dargeboten. Faust hat das Studierzimmer verlassen, er wächst infolge der Teufelswette über die Arbeit hinaus, um die Welt von anderer Seite kennen zu lernen. In Auerbachs Keller sieht er an den am Trinkgelage Beteiligten, was Maßlosigkeit bedeutet. Die fröhlichen Zecher, von Mephistopheles‘ magischen Künsten befeuert, sind völlig ungehemmt und verspotten alles, was im Alltag als heilig gelten könnte: Politik, Religion und zuletzt die Liebe.

Fünfte These:

Fausts Denken ist heute obsolet.

Fausts sich wandelndes Bewusstsein ist der Spiegel, in dessen Rahmen sich die geschichtlichen Wandlungen von der mittelalterlichen Philosophie, der Neuzeit, der Aufklärung über die Klassik bis zur Romantik vor Augen stellen. Sein Gespräch mit Wagner aber ist von der Auseinandersetzung mit einem Wissenschaftsverständnis geprägt, das, folgt man Nietzsches Vermutung, heute aktueller ist als das faustische. Wagner denkt sich die Welt, wie ein barocker Wissenschaftler es täte. Wagner erscheint die Welt im Licht der Bücher: „Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen, / So steigt der ganze Himmel zu dir nieder“ (V. 1108–1109). Größer lässt sich die Verschiedenheit zwischen Faust und Wagner kaum denken. Bücher bedeuten Faust praktisch viel, doch lieber versenkt er sich in Natur und Leben.

Sechste These:

Ohne den Teufel wäre Faust nichts wert, denn jener bekundet die sittliche Schuld in dessen Leben. Von der einsamen Hexe – Naturwesen sind per definitionem einsam – lässt sich Ähnliches sagen: Ihre Absicht richtet sich auf das Geschlecht, sie bekundet die natürliche Schuld in dem Gelehrten.

Als er in den Zauberspiegel blickt, zeigt Faust sich verändert. Er reagiert spontan-naiv, wie im Rausch, wie er es im Studierzimmer bereits ankündigt (V. 1747–1751: „Des Denkens Faden ist zerrissen, / Mir ekelt lange vor allem Wissen. / Lass in den Tiefen der Sinnlichkeit / Uns glühende Leidenschaften stillen!“). Die Vernunft scheint von der Begierde überwunden zu werden.

Siebte These:

Mehr und mehr wird Gretchen zerrissen von den Gefühlen der Neigung und der Pflicht.

Gretchen dürfte vorgewarnt gewesen sein. Stets werden Frauen von Männern vernichtet. Beispiele dafür gibt es genug, dass die Mutter auf sie Einfluss nimmt, immer bemüht, die Haltung, den Ruf und die Ehre ihrer Tochter zu bewahren und aus ihr eine stattliche Ehefrau zu machen. Was für ein Glück, dass die Mutter so „akkurat“ (V. 3114) über die aufkommenden Sehnsüchte der Tochter wacht! Was für ein Glück! Und trotzdem erhebt sich an dieser Stelle, innerhalb des 18. Jahrhundert, im Zeichen des Sturm und Drang, der Protest des Individuums gegen elterliche Bevormundung und religiöse Zwänge.

Achte These:

Goethe stempelt Gretchen nicht als Kindsmörderin ab. Im Übrigen belässt er vieles von dem, was Gretchen angelastet werden kann, im Dunkeln: den Tod der Mutter, den vorehelichen Sexualverkehr, die Tötung des Kindes.

Gretchen ist nichtsdestotrotz die vierzehnjährige Bürgerstochter, die ihr Kind tötet, dessen Geist ihr zuletzt im Kerker erscheint, um sich im Lied an ihr zu rächen.

„Meine Mutter, die Hur’, /
Die mich umgebracht hat! /
Mein Vater, der Schelm, /
Der mich gessen hat! /
Mein Schwesterlein klein /
Hub auf die Bein’ /
An einem kühlen Ort; /
Da ward ich ein schönes Waldvögelein; /
Fliege fort, fliege fort.“ (V. 4412–4420)

Dazu gehört außerdem, dass Gretchen sich auf einen „Schelm“ (V. 4414) eingelassen hat. Faust bekommt damit das für Mephistopheles bestimmte Beiwort (vgl. V. 2515).

Arbeitsanregungen:

    Fahren Sie fort, Wahrheiten über den „Faust“ in Thesen zu formulieren.
    Achten Sie dabei auch auf die Form des Beweises.
    Schließen Sie jeden Beweis wenn nötig mit einer Correctio ab.
    Formulieren Sie einen Brief an den Herrgott, in dem das beklagenswerte Los der Menschen zur Sprache kommt! Beziehen Sie dabei des Teufels Formulierungen als auch Ihre eigenen Kenntnisse mit ein.