Regeln der Interpretation

Beobachtungen des Lehrers anlässlich einer Deutschklausur

1. Argumenta a textu sunt praeferenda!

Oder: Marie, die Prostituierte

Wie oft wird die Analyse, der Vergleich, die Interpretation usw. auf Informationen bezogen, die außerhalb des Textes vorkommen! Marie sei eine Prostituierte, heißt es zum Beispiel in der Klausur eines Schülers über Büchners „Woyzeck“, also könne sie den Tambourmajor nicht aufrichtig lieben. Ihre „Liebe“ sei rein sexueller Natur. Marie ist eine Prostituierte, das wird tatsächlich in einer Anmerkung angegeben. Es wird in der Einleitung des Klausurtextes, zweier Szenen aus dem Drama, kurz erwähnt. Marie, die Prostituierte – das ist allerdings ein Klischee, mit dem man im Hinblick auf die Interpretation der Figur nicht viel wird ausrichten können. Besser wäre es, Maries Auffassungen hinsichtlich der Liebe aus dem Text selbst herauszulösen. Es gilt, vorsichtig als Regel formuliert, dass „textimmanente“ Beobachtungen vorrangig zu behandeln sind.

Argumenta a textu sunt praeferenda:

Die aus dem Text abgeleiteten Argumente sind vorzuziehen!

2. Loci clari praecipue attingendi sunt!

Oder: Das Liebesorakel

Das Alter der in den Klausuren vorliegenden Texte hat zur Folge, dass Missverständnisse, Unklarheiten möglich sind. Das Unverständliche verständlich zu machen, darin läge dann die Aufgabe der Analyse. Aber es gibt Ausnahmen, Textstellen nämlich, deren Unmissverständlichkeit vom Schüler nicht in Abrede gestellt werden darf. Es gilt, wieder als Regel formuliert, dass solche Textstellen besonders herausgestellt werden müssen.

Loci clari praecipue attingendi sunt!

Klare Textstellen müssen vorrangig behandelt werden!

Das Liebesorakel, mit dem Margarete in Goethes Tragödie „Faust“ beschäftigt ist, bietet dafür ein Beispiel: Das Spiel mit der Blume ist auch ohne tiefere Kenntnis von Goethes Tragödie verständlich.

FAUST.

Süß Liebchen!

MARGARETE.

Lasst einmal!

Sie pflückt eine Sternblume und zupft die Blätter ab, eins nach dem andern.

FAUST.

Was soll das? Einen Strauß?

MARGARETE.

Nein, es soll nur ein Spiel.

FAUST.

Wie?

MARGARETE.

Geht! Ihr lacht mich aus.

Sie rupft und murmelt.

FAUST.

Was murmelst du?

MARGARETE halb laut.

Er liebt mich – liebt mich nicht.

FAUST.

Du holdes Himmelsangesicht!

MARGARETE fährt fort.

Liebt mich – Nicht – Liebt mich – Nicht –

Das letzte Blatt ausrupfend, mit holder Freude:

Er liebt mich!

Das Spiel mit der Margerite („Sternblume“) ist zeitlos. Wer das Blumenorakel spielt, gesteht sich ein, dass er verliebt ist und dass er sich veranlasst sieht, jemandem von seiner Verliebtheit mitzuteilen. Religiöse Gründe dürften in diesem Zusammenhang bedeutungslos sein. Trotzdem ist die Tendenz in den Klausuren unverkennbar. Wie oft ist zu lesen, dass Margarete aus religiösen Gründen an der Blume zupft, um sich der Entscheidung Gottes hinsichtlich ihrer Verbindung mit Faust zu vergewissern! Das kindliche Spiel mit der Margerite, das naiv, aber zugleich geschickt von Margarete erzwungene Gespräch über ihre Gefühle für Faust, wird dadurch unnötigerweise verkompliziert. Margaretes religiöse Motive spielen erst in anderen Zusammenhängen eine Rolle.

Der Umkehrschluss zu der zweiten Regel liegt übrigens nahe:

Loci obscuri posterius quaerendi sunt!

Unklare Textstellen müssen nachgeordnet behandelt werden!