Die Sackgasse der Metropole


Foto: Willy Pragher (1928)

Paul Boldts expressionistisches Gedicht „Auf der Terrasse des Café Josty“

Der Wert einer Erinnerung: der lebenssteigernde Wert einer hinderlichen Erinnerung. Versteht sich der Expressionismus als hinderlich, hat auch dieses schlichte Gedicht Paul Boldts mit dem Titel „Auf der Terrasse des Café Josty“ durchaus Wert. Denn der Text weicht in archaische Erinnerungen aus. Das Sonett ist auf vorgeschichtliche Phänomene, auf eiszeitliche Gletscher und Lawinen bezogen, obwohl es vom Umbruch zur Moderne handelt. Anders gesagt: der Potsdamer Platz und der fieberhafte Verkehr auf dem Platz werden dargestellt, die Geschwindigkeitsphantasien der Moderne. Die Geschwindigkeit der vor dem Auge des Betrachters sich bewegenden Massen drückt das Leben aus; aber kann das Leben durch Geschwindigkeit ausgedrückt werden? Das Gedicht scheint eine Brücke zu dieser Frage zu bilden. Es ist am 13. November 1912 in der Wochenschrift „Die Aktion“ erschienen. Die Zeitschrift half dem Expressionismus den Weg zu bahnen.

Es handelt sich um ein Sonett. Ist das nicht eine barocke Form, hierarchisch und streng im Aufbau? Die Strenge ist bei Boldt jedoch geschwunden. Die Zäsur in der Mitte der Verse fehlt, die den Alexandriner beispielsweise bei Gryphius symmetrisch aufgeteilt hat. Die Zäsuren sind unregelmäßig verteilt (nach der ersten Hebung, z. B. „Verglétschert“, V. 2; nach der zweiten Hebung, z. B. V. 3, V. 4; durchgängig im abschließenden Terzett als Dihäresen nach dem zweiten Jambus: „Die méhren sích“, „Aufsprítzt Berlín“, „Vom Raúch der Nácht“, V. 12–14), wodurch sich unterschiedliche Abstände zwischen den Kola ergeben. Jamben sind nur in ungeordneter, der dargestellten Bewegung auf dem Potsdamer Platz folgenden Form vorhanden. Was den Rhythmus betrifft, gibt Boldt zu erkennen, dass es ihm um Bewegung und Wechsel geht. Auf Reime am Versschluss verzichtet Boldt nicht: Die beiden Quartette bilden jeweils einen umarmenden Reim (abba, cddc), die beiden Terzette werden durch einen Schweifreim nach dem Schema efe, fgg miteinander verbunden.

Aus der Perspektive des Lebens, das sich den Blicken des Betrachters „[a]uf der Terrasse des Café Josty“ bietet, verliert die Formensprache eines Sonetts vermutlich ihren Sinn. Wer könnte Bilder liefern, die das Leben auf dem Potsdamer Platz adäquat einfingen, die endlosen Straßentrakte, die Trams, die namenlosen Menschen? Die im ersten Quartett des vorliegenden Sonetts dargestellten Eindrücke sollen dennoch ein Gefühl vom Leben auf dem Potsdamer Platz vermitteln. Hintergrund der zweiten Strophe bildet das ameisenartige Treiben, die ständige Bewegung der Menschen auf den Straßen und Plätzen der Umgebung. In den Terzetten wandelt sich das Bild, um Eindrücke des nächtlichen Lebens auf dem Potsdamer Platz schärfer und eindringlicher hervortreten zu lassen. Nachtregen hüllt den Platz ein, Autoverkehr spritzt durch die Pfützen.

Mit immer neu ansetzenden Metaphern scheint das Sonett den Mythos der modernen Großstadt erschüttern zu wollen. Zum einen baut Boldt das Gedicht aus Naturmetaphern auf. Das erste Quartett enthält eine perfekte Naturmetapher: den Gletscher. Langsam bewegt sich der Gletscher, schiebt Äonen vor sich her und befindet sich damit im unüberbrückbaren Gegensatz zu dem Bild der modernen Großstadt. Genau genommen zeigt Boldt, wie die Metropole in ihr Gegenteil übergeht, indem er das inkohative Verb „[v]ergletschert“ (V. 2) zur Metaphernbildung verwendet: „Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll / Vergletschert alle hallenden Lawinen / Der Strassentrakte“. Ohne einen Sprecher zu nennen, zwingt der Text dem urbanen Schauplatz Bilder ab, zu denen dieser ansonsten nicht fähig wäre. Trotz seiner Befahrbarkeit, des ständig passierenden Verkehrs kann sich der Potsdamer Platz nicht mehr „rühren“: Die Straßentrakte sind zum Gletscher geworden. Das wechselvolle Leben der Metropolen und die Ruhe der Gletscher treten in scharfem Gegensatz zueinander. Die Hektik des großstädtischen Lebens vermittelt der Autor auch auf formaler Ebene. Da er für das erste Quartett den so genannten „Hakenstil“ gewählt hat, fließen die Verse ineinander über; ein Gefühl der Unausweichlichkeit und Unaufhaltsamkeit wird erzeugt.

Die Auflösung der modernen Menschenmassen zu „Menschenmüll“ (V. 4), ihr Abstieg zu bloßen Arbeitskräften, zu „Ameisen“ (V. 6) – diese Aspekte prägen den Übergang von der ersten zur zweiten Strophe. Kein braver Bürger verlässt laut der Darstellung der Verse frühmorgens sein Heim, um nach wohlverdienter Ruhe seinen beruflichen Pflichten nachzugehen. Anstatt zu „gehen“, „würdig auszuschreiten“, „rinnen“ (V. 5) und „[s]chwimmen“ die Menschen in der großstädtischen Masse – und das Private ist verschwunden. Man fragt sich, wie der Vergleich mit dem Sonnenlicht aufzufassen ist – und ist versucht an eine optimistische Wendung zu glauben, die auf Widerstände, vielleicht sogar auf Rationalität innerhalb der modernen Menschenmasse hinweisen soll (vgl. V. 7–8). Doch offenbar wird mit dieser Assoziation nur gespielt, die Gedanken „blink[en]“ kurz auf hinter „Stirne[n] und Hände[n]“ (V. 7), um dann zu verschwinden, „wie Sonnenlicht durch dunklen Wald“ (V. 8).

Als ob sich die Stadt in eine dreckschillernde Wasserlache verwandelt hätte, vollzieht sich der Wechsel von den Quartetten zu den Terzetten. Das Leben in der Metropole macht der Nacht und ihren ekligen Tieren („Fledermäuse weiss“, V. 10; „lila Quallen“, V. 11), macht schließlich der Krankheit Platz (vgl. V. 14). Mitten in der Großstadt tut sich die Schlucht zur Natur, zur Krankheit auf, zwar als Anspielung nur, aber doch als hinderliche Erinnerung.

Hier lässt sich ein epochengeschichtlicher Rückblick anschließen. Seit der Romantik spätestens ist das Leben auf dem Land dem Leben in der Stadt entgegengesetzt. Das Stadtleben erscheint dem Romantiker aus mehreren Gründen unannehmbar. Die Bewohner der Städte werden nämlich zum einen für Spießer bzw. für „Philister“ gehalten, d. h. für Menschen, die sich dem einfallslosen Nützlichkeitsdenken verschrieben haben. Zum anderen sei der Mensch ohne die – gesunde – Natur lebensunfähig; sie verhelfe ihm erst zu dem Selbstgefühl, das für die Charakterbildung notwendig ist. Auf diesen Zusammenhang sind die romantischen Ideen und Motive zu beziehen: „Unterwegs sein“ heißt demnach aus der Stadt hinaus wandern, in die Natur hinein. Die romantische „Sehnsucht“ wäre als ein weiteres Motiv zu nennen. Das romantische Gedicht drängt grundsätzlich in ferne, unbekannte Regionen hinüber. Das expressionistische Gedicht dagegen zeigt, dass das Leben in der Großstadt in eine Sackgasse geraten ist.