Die „unmöglichen“ Rechte der Familie

Die kleistsche Erzählung „Die Marquise von O.“ vor dem Hintergrund der dargestellten Kriegshandlungen


Der Kommandant

In der Perspektive des Kommandanten ist alles mit dem Koalitionskrieg verbunden, jeder Angreifer willens, die Auswüchse der Französischen Revolution auf italienischem Boden zu bekämpfen. Er betrachtet die Zitadelle so lange als französisches Staatsgebiet, bis der Krieg auf sie übergreift. Die Familie, eingeschlossen die verwitwete Marquise mit ihren Kindern, steht außerhalb dieser territorialen Ordnung. Sie ist kein Staatsgebiet oder koloniales Gebiet; sie ist, seit der Geltung des Code Civil, prinzipiell auch nicht mehr okkupierbar. Zwar bleibt die Familie weiterhin der väterlichen Gewalt unterworfen, doch wird sie durch den Code Civil aus der ewigen Ordnung der Stände herausgehoben. Die Ausgangssituation bei der kleistschen Erzählung „Die Marquise von O.“ ist also folgende: Die Familie kennt Rechte, auch in Zeiten des Krieges. Doch ist es von Beginn an unmöglich, sie durchzusetzen.


Arbeitsanregung:

Informieren Sie sich über die „revolutionäre Herausforderung“ des Code Civil. Welche Regelungen sieht dieses „erste Gesetzbuch eines ständefreien Staates“ vor?
Napoléon Bonaparte präsentiert Kaiserin Joséphine den Code Civil, das „erste Gesetzbuch eines ständefreien Staates“.

Graf F.

So tritt, der Logik der Erzählung gemäß, neben die Perspektive des Kommandanten eine zweite: Es handelt sich um die Perspektive des bei fortschreitender Handlung dramatisch in Aktion tretenden russischen Offiziers, des Grafen F. – oder um nichts daran zu beschönigen: des Vergewaltigers der Marquise. Für ihn nämlich ist die Eroberung der Zitadelle mit dem Verlust seiner Ehre verbunden. „Ehre“ – das klingt nach uralten Forderungen des Ehrenkodexes, nach überkommenen Vorstellungen, nach einer Idee, die in manchen Kulturen noch vor die Tugend, die Familie, ja sogar vor das Leben tritt. Für Heinrich von Kleist wird der Gegensatz zwischen Tugend und Ehre auch in der vorliegenden Erzählung zu einer zentralen Frage:

Kennt der russische Offizier, durch die Vergewaltigung seiner Ehre verlustig gegangen, keine anderen Motive als die, diese Ehre wiederherzustellen, und kämpft nur aus diesen Gründen wie um sein Leben darum – „die Naturen der Asiaten mit Schaudern erfüllend“ (Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. Hamburger Lesehefte Verlag: Husum 2018, S. 5), die Zitadelle wieder instand zu setzen?

Arbeitsanregungen:

1. Diskutieren Sie diese Frage im Kurs!
2. Verfassen Sie einen doppelten Tagebucheintrag des Grafen nach der schrecklichen Tat, einmal in der Perspektive des reuigen, tugendhaften Menschen, dann aus der Perspektive des seiner Ehre verlustig gegangenen Offiziers.
3. Versuchen Sie, auf der Grundlage der Tagebucheinträge einen passenden Fortgang der Handlung zu entwerfen. Löst sich das Dilemma des Grafen auf? Wie sieht eine mögliche Lösung aus? Schreiben Sie die letzte Seite der Erzählung.

Der General

Mit dem Gespräch zwischen dem Kommandanten der eroberten Zitadelle und dem General der feindlichen Truppen erreicht die Frage nach der Darstellung des Krieges eine neue Stufe. Die Kriegshandlungen sind unterbrochen, man steht einander Rede und Antwort, wohlgemerkt unter den Offizieren. Zivile Formen halten Einzug, bürgerliche Rechte und Anstand – aber auch von militärischen Ehrenfloskeln ist die Rede: Der General „bezeugte dem Kommandanten seine Hochachtung, bedauerte, dass das Glück seinen Mut nicht besser unterstützt habe, und gab ihm, auf sein Ehrenwort, die Freiheit, sich hinzubegeben, wohin er wolle“ (S. 5, Z. 33–36). Wenn die Offiziere wirklich so tugendhaft wären, wie der Text an dieser Stelle vorgibt, warum streut der Erzähler derlei Ehrenbezeigungen mitten in die Darstellung von Gewaltverbrechen und Kriegsakten ein? Offenbar genügt die kastenmäßige Abgrenzung, die in diesem Fall Offiziere gegenüber der einfachen Soldateska vollziehen – eine Verachtung übrigens, die in der egalitären, aufgeklärten Gesellschaft um 1800 auch Vornehme gegenüber Bedienten an den Tag legen – nicht, um die egoistischen Leidenschaften zu beherrschen. Auf die verbindliche französische Anrede der Marquise durch den Grafen F… folgt deren unerkannt bleibende Vergewaltigung (vgl. S. 4, Z. 22–29). Auf das oben dargestellte Gespräch zwischen dem General und dem Kommandanten folgt die standrechtliche Erschießung von fünf verdächtigen, „barbarischen“ Soldaten ohne viel Federlesens (vgl. s. 6, Z. 18–21). Der Kommandant selbst vollzieht in der Versöhnung mit der eigenen Tochter einen unerhörten sexuellen Übergriff, eine zweite Vergewaltigung gewissermaßen, die in allen Einzelheiten geschildert wird (vgl. S. 32, Z. 40 – S. 33, Z. 5).



Kippfiguren

In der wissenschaftlichen Kleist-Forschung wird das Inventar der Figuren nicht nach guten und bösen Naturen aufgeteilt. Diese Aufteilung geht mitten durch das Herz der Figuren. In den Augen der Marquise von O. – und damit auch in der Perspektive des dadurch beeinflussten, „mitfühlenden“ Lesers – stellt sich Graf F. beispielsweise – um die Marquise zu zitieren – als „Engel“ und „Teufel“ dar. Aber der Graf ist nicht die einzige Figur, die als „Kippfigur“ wahrgenommen werden muss. Auch die Marquise ist davon nicht ausgenommen. Sie ist die Frau, die mindestens einmal vergewaltigt wird. Wäre sie ein Mann, wäre damit die Ausgangslage für einen Rachefeldzug geschaffen. Die Marquise geht einen anderen Weg: Sie emanzipiert sich. Sie tut dies zunächst mit einer verdächtigen, unziemlichen, ja peinlichen Annonce, in welcher sie nicht nur die Schwangerschaft mitteilt, sondern auch, dass sie den Kindsvater suche und ihm die Heirat verspreche. Der Zusatz, dass sie ihm „aus Familienrücksichten“ die Heirat verspreche, macht allerdings deutlich, dass der Emanzipationsversuch scheitert.



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