Kleists Kippfiguren

In der wissenschaftlichen Kleist-Forschung ist die Kippfigur so etwas wie eine Leitidee. Das Inventar der kleistschen Figuren wird nicht nach guten und bösen Naturen aufgeteilt. Die Aufteilung geht mitten durch das Herz der Figuren. Die Kippfigur ist die Figur, die unerwartet in ihr Gegenteil umschlägt, wie ein bekanntes Beispiel aus dem Kanon optischer Täuschungen zeigt. Die dargestellte Frau ist nicht mit einer älteren Frau, deren große Nase eine Warze ziert, zu verwechseln. In den Augen der Marquise von O. – und damit auch aus der Perspektive des dadurch beeinflussten, „mitfühlenden“ Lesers – stellt sich Graf F. beispielsweise, um die Marquise zu zitieren, als „Engel“ und „Teufel“ zugleich dar. Doch der Graf ist nicht klar und begrenzt. Es lohnt sich, die ältere Frau länger zu betrachten, die ihr Kinn tief in den Kragen ihres Pelzes sinken lässt. Es gehört zum Wesen der Kippfigur, dass sie eine weitere Verwandlung gestattet. Der Mund der älteren Frau verkörpert den Hals einer jüngeren Frau mit Halsschmuck. Kleists energischer Graf F. oder, um nichts daran zu beschönigen, der heimliche Vergewaltiger der Marquise ist aber nicht die einzige Figur, die als Kippfigur wahrgenommen werden muss. Auch die Marquise ist davon nicht ausgenommen.

Wäre sie ein Mann, wäre mit dem Verbrechen die Ausgangslage für einen Rachefeldzug geschaffen. Die Marquise geht einen anderen Weg.

Arbeitsanregung:

Eine „den Spott der Welt reizende“ (Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. [1808] 2018, 3) Annonce muss nicht unbedingt von einer unerschrockenen Verfasserin stammen.

  • Weisen Sie nach, dass das Bild der Titelfigur nicht einheitlich ist! Es „kippt“! Beziehen Sie sich dabei auf den Beginn der Erzählung.

Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. Hamburger Lesehefte Verlag: [1808] 2018, 3

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