Kleists berühmter Gedankenstrich

Die Marquise von O… und Kleists dramatische Erzählkunst

Vorstufen und Überarbeitungen einer Interpretation der Vergewaltigungsszene

Der Vordenker der Frühromantik, Heinrich von Kleist, schildert in seiner Novelle „Die Marquise von O…” aus dem Jahr 1808 die außereheliche und unter skandalösen Umständen herbeigeführte Schwangerschaft der fiktiven Marquise von O…, einer innerhalb eines französischen Besatzungsgebietes in Italien lebenden Adeligen, die sich den strengen Konventionen und Normen ihrer Zeit unterwerfen muss. Kleist setzt sich in der Novelle gesellschaftskritisch mit patriarchalischen Familienstrukturen, eingeschränkter Selbstbestimmtheit der Frau und bürgerlicher Doppelmoral auseinander. Absonderliche menschliche Charakterzüge kommen dabei auf nahezu filmische Art und Weise zum Vorschein.

Die Begebenheiten tragen sich zur Zeit des zweiten Koalitionskrieges (1792-1815) zu. Die französische Zitadelle des Obristen von G…, des Vaters der Marquise, wird von russischen Truppen angegriffen. Die Marquise, die sich ebenfalls in der Festung befindet, wird auf ihrer Flucht vor den feindlichen Geschossen von russischen Soldaten aufgegriffen, in einen abgelegenen Flügel der Festung verschleppt und steht kurz davor, von diesen vergewaltigt zu werden, als sie von einem russischen Offizier, Graf F…, gerettet wird, der der Marquise in ihrer Verzweiflung wie ein Engel des Himmels erscheint. Als die Marquise von den Ereignissen überwältigt in eine Ohnmacht fällt, vergeht der vermeintliche Retter sich jedoch selbst an ihr.

In der „Marquise von O…“ kommt Kleists dramatische Erzählkunst zur vollständigen Selbstgewissheit. Was sie von dem Modell klassischen Erzählens trennt, das auf die rationale Durchdringung des Dargestellten drängt, macht sich auch in dieser Passage, der Stelle mit dem berühmtesten Gedankenstrich der Literatur, bemerkbar: Es ist der Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Sprache, das Misstrauen gegenüber wohlgeordneten Wörtern und Sätzen. Kleist eilt damit seiner Zeit weit voraus, macht Probleme und Phänomene sichtbar, an die die Literatur der Romantik sich erst allmählich herantasten wird.

Kippfiguren und Zerrspiegel

Man denke sich das Abbild der Welt in einem Text wie das Abbild der Welt in einer hohlen, spiegelnden Kugel. Weit entfernte Dinge wie der Horizont und die Sonne, aber auch menschliche Verhaltensweisen wie Maß und Gerechtigkeit liegen in begrenzter Entfernung vor dem Auge. Doch ihr Bild ist verzerrt, da sie außerhalb der Brennweite der Kugel liegen. Erscheinen die Verhältnisse der Marquise zu Beginn der Erzählung im rechten Maß, abgesehen von der irritierenden Anzeige, machen sie an dieser Stelle den Eindruck, in heilloser Verwirrung zu sein. Im Augenblick der Gefahr hat die Adlige keine Zeit mehr zu verlieren, sich vor dem Ansturm der Feinde, den gewaltsamen Übergriffen der Russen zu retten. Auch das seelische Gleichgewicht ist verloren gegangen, für das der Erzähler – der Leser vergleiche die vorhergehende Seite (Z. 28) – die in Kleists Werk geläufige Metapher, ja Allegorie der Waage bemüht hat.

Die verzweifelte Marquise wird im Augenblick der Gefahr nicht mehr von ihrem Vater beschützt, obwohl ihre Tugend auf dem Spiel steht; die Einheit der Familie ist, wie anfangs erwähnt, aufgehoben: „Der Obrist erklärte gegen seine Familie, dass er sich nunmehr [d. i. angesichts des Kriegsgeschehens, Anm. d. Verf.] verhalten würde, als ob sie nicht vorhanden wäre“ (S. 3, Z. 30–32). Die durch Feuer und Kanonen gehetzte Frau hat keine Zeit zu verlieren; die Obristin, ihre Mutter, die Kinder und ihre Bediensteten sind nicht mehr bei ihr. Die Familie, ihre Ordnung, ihr Frieden und der durch die Familie garantierte Schutz stellen sich als Vorstellungen heraus, die im Kriegsgetümmel an Bedeutung verloren haben. „Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr, da sie eben durch die Hintertür entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher Scharfschützen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich still ward, die Gewehre über die Schultern hing, und sie, unter abscheulichen Gebärden, mit sich fortführte“ (S. 4, Z. 6–10). Es ist tatsächlich so, als überschlüge sich nicht nur die Syntax, sondern die dargestellte Situation. Die Marquise, hin- und hergerissen von der „sich untereinander selbst bekämpfenden Rotte“ (S. 4, Z. 11–12) ist einer Ohnmacht nahe. Trotz ihrer Wehrlosigkeit ist sie allerdings zu einem „Zetergeschrei“ (S. 4, Z. 16) in der Lage.

Zeter und Mordio!

Gesa von Dane weist in ihrer 2005 veröffentlichten Monographie „Zeter und Mordio! Vergewaltigung in Literatur und Recht“ darauf hin, dass der heute nicht mehr gebräuchliche Terminus in der Rechtsgeschichte Verwendung gehabt habe: „Zetergeschrei ist eine aus der Rechtssprache in die Umgangssprache eingegangene Vokabel, die in Kleists Erzählung Verwendung findet. Auch zur Entlastung des Opfers dienten die Hilferufe. Behauptete eine Frau, vergewaltigt worden zu sein, ohne dass ein Hilferuf gehört worden war, war es schwer, die Tat glaubhaft zu machen und nachzuweisen, dass keine Verführung des Mannes durch die Frau stattgefunden hatte“ (S. 147). Dass die Marquise bei diesem Verbrechen auch Lust empfunden habe, soll die im weiteren Verlauf der Handlung nachgetragene, rätselhafte Kindheitserinnerung des Grafen nahelegen (vgl. S. 13, Z. 30 – S. 14, Z. 2).

So tritt, der Logik der Erzählung entsprechend, neben die Perspektive des „unzuverlässigen Erzählers“ eine zweite: Der russische Offizier muss der Marquise auf den ersten Blick wie ein Ehrenmann erscheinen. Er rettet sie vor der „Rotte“ der zum Äußersten entschlossenen Soldaten. Dass er selbst es schließlich ist, der sie vergewaltigt, wird in einem Gedankenstrich verborgen. Dem emphatischen Wortgebrauch, durch den das animalische Verhalten der Soldateska unterstrichen wird, schließt sich die sarkastische Darstellung des galanten, zuvorkommenden Verhaltens des vermeintlichen Retters an. Das im Hinblick auf Kleists Erzählungen festgestellte Misstrauen gegenüber der Sprache wäre demnach aus der französischen Anrede der Dame (vgl. S. 4, Z. 22) und aus dem folgenden Gedankenstrich ableitbar. Michael Kohlhaas, „dessen Rechtgefühl einer Goldwaage glich“, heißt es in einer anderen Erzählung des Autors, versucht dem einmal gegebenen Wort gewaltsam zur Gerechtigkeit zu verhelfen. Auch sonst gewinnt der Leser den Eindruck, dass nirgendwo so viel von vermeintlicher Gerechtigkeit gesprochen wird wie in Kleists Erzählungen. Graf F…, als „Engel des Himmels“ apostrophiert, fühlt sich jedenfalls nicht an das einmal gegebene „verbindliche“ Wort gebunden und zeigt dem Leser keinesfalls ein lesbares Gesicht, das dieser nur zu entziffern bräuchte. Die Finesse des berühmten Gedankenstrichs besteht darin, dass lediglich der Zeitpunkt des Vergehens, nicht aber die Umstände ans Licht kommen. Somit bleibt die Frage, was genau geschehen ist, unbeantwortet.

Der unzuverlässige Erzähler

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass vom Schicksal der Marquise auf eine anschauliche, geradezu filmische Art und Weise erzählt wird. Die Welt der zurückgezogen lebenden Witwe, für die der Autor, selbst im Sternzeichen der Waage geboren, die Metapher der Waage verwendet, gerät aus dem Gleichgewicht, als sich die Ereignisse infolge der Kriegshandlungen im rasenden Tempo überschlagen. Schließlich muss die Marquise, als Opfer einer Vergewaltigung, aus den gegebenen patriarchalischen Familienverhältnissen ausbrechen und den Konventionen und Normen ihrer Zeit die kalte Schulter zeigen, um wieder genug in die andere Waagschale werfen zu können, um die vermeintliche Balance wiederherzustellen und der Welt wieder den Anschein von gerechten Verhältnissen zu geben.


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