Humboldt: Der Doppelbegriff des Sprachorgans

Wilhelm von Humboldt: Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf den Menschen im Allgemeinen

In der Diskussion über das Verhältnis von Sprache und Denken wirkt die Rede von einem Sprachorgan wie eine kühne, starke Metapher, behauptet die Rede doch, dass die Sprache das Denken organisieren könne. Kann sie es, um einen Ausdruck der EDV zu verwenden, auch „formatieren“? Aus der Luft gegriffen ist der Doppelbegriff nicht, denn das Denken braucht das Organ der Sprache, wie der Atem die Lunge, um physisch wahrnehmbar zu werden. Allerdings ruft der Begriff unerwünschte Doppeleffekte hervor. Dient Sprache als Organ wirklich dazu, die sinnlichen Eindrücke des Geistes zu „objektivieren“, die sonst, launisch und willkürlich, im Subjektiven verschwänden? Vermutlich meint dies Wilhelm von Humboldt, wenn er von der Sprache als dem „Organ der Seele“ spricht.

Nicht ausgeschlossen ist die naiv-realistische Betrachtungsweise, wonach die Sprachorgane die Artikulationswerkzeuge meinen, wie Lippen, Zunge, Gaumen usw. Denn die Sprache wäre flüchtig wie das Denken, würde sie nicht körperlich mithilfe der Artikulation. Noch größere Körperlichkeit ist mit dem Schriftkörper verbunden: „Die intellectuelle Thätigkeit […] erhält durch die Schrift einen bleibenden Körper“ (Wilhelm von Humboldt: Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf den Menschen im Allgemeinen). Gleichberechtigt neben diese tritt eine abstraktere Betrachtungsweise: Humboldts kunstvolles Gedankengebäude ermöglicht es und verleitet dazu, sich unter der Metapher des Sprachorgans auch die Energie (Arist. ἐνέργεια) vorzustellen, mit der das Werkzeug des Denkens in Gebrauch genommen wird.

Für Humboldt ist Sprache in erster Linie (Selbst-)Tätigkeit, nicht System – im Sinne des eingangs erwähnten Doppelbegriffs gesprochen: ein tätiges Organ. Denn welches System (langue) wäre imstande, das Denken zu einer einzelnen Äußerung (parole) zu bringen? Und doch treibt es unermüdlich die Spontaneität der Vorstellungskraft an! Die Magie der Metapher des Doppelbegriffs verführt dazu, an Herder zu denken, dem die Sprache ebenfalls keine Sache der Anschauung sein konnte. Berücksichtigt man, schreibt Herder beispielsweise im Streit um das Lateinische an den Schulen, dass ein Kind, „ein Quintaner“ – ein Sechstklässler – ein System „Von Casibus, Deklinationen, Conjugationen und Syntaxis Philosophisch [nicht] übersehen [kann]? Er sieht nichts, als das tote Gebäude, das im Qual macht; ohne Materiellen Nutzen zu haben, ohne eine Sprache zu lernen. So quält er sich hinauf und hat nichts gelernt“ (Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Werke, hrsg. von Wolfgang Pross, Bd. 1. München: Carl Hanser Verlag 1984, S. 397). Der weiß also nichts von Sprache, der sie nicht als Muttersprache, beiläufig fast und im Affekt gelernt hat.

Was die Sprache per definitionem sei, erscheint dabei als paradoxes Doppelgebilde:

  • Einerseits ist sie Werkzeug. In diesem Fall ist für den „Handwerker“ oder „Künstler“ – so soll der, der die Sprache benutzt, übergangsweise heißen – ein Überschuss des Denkens anzunehmen. Als ein solcher Überschuss darf die Totalität der Erfahrung, die der um die Artikulation seines Gedankens bemühte Handwerker oder Künstler innerhalb der Muttersprache macht, durchaus gelten.
  • Andererseits scheint der Ausdruck des Geistes sich in unendlicher Ferne zu verlieren, wenn der Handwerker oder Künstler die Sprache nur gründlich betrachtet. Es ist nicht aus der Luft zu greifen, es liegt nicht einmal auf der Zunge, angesichts des Überschusses der Sprachen, ihrer mannigfaltigen Erscheinungen, was mit Hilfe der Artikulationswerkzeuge gebildet werden soll.

Der Topos von der „Armut der Sprache“ passt in diesen Zusammenhang, weil in ihm der beschriebene Doppelbegriff bündig zum Ausdruck kommt: Armut trotz Vielfalt. In diesem Sinne beklagt Cicero als Übersetzer die „egestas verborum“ seiner Muttersprache gegenüber der griechischen Sprache, im Bewusstsein, dass das Lateinische nicht das abbilden kann, was das Denken zu leisten imstande ist. Herder ist sogar von der Frage fasziniert, ob Gott selbst so „ideen- und wortarm“ gewesen sein könne, wie der „rohe“ Mensch, so mit dem Bedürfnis nach lebendigem Ausdruck ausgestattet, dass er einen „dergleichen verwirrenden Wortgebrauch“ grundgelegt habe (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 2017, S. 63). Humboldt ist daher, in Anlehnung an Herder, daran gelegen, die Sprache „genetisch“, von der Entstehung her, zu begreifen. Er möchte an den ewig sich wiederholenden Kreislauf des Denkens herankommen und stößt dabei einerseits auf die Armut der Einzelsprache, andererseits auf den Reichtum der Sprachen insgesamt.

Aufgabe:

Analysieren Sie den folgenden Aufsatz Wilhelm von Humboldts. Wenden Sie dabei die sogenannte W-Fragen-Methode an. Fangen Sie beispielsweise so an:

  1. Was ist das bildende Organ des Gedankens?
  2. Wie wird das Denken wahrnehmbar für die Sinne?
  3. Wodurch wird die intellektuelle Tätigkeit zum bleibenden Körper?
  4. Was gehört zum Inbegriff der Sprache?
  5. Worin sind die sprachlichen Laute einerseits und andererseits enthalten?
  6. Warum sind Denken und Sprache unzertrennlich?
  7. Was kann nicht schlechthin als das Erzeugte betrachtet werden, was wiederum muss nicht unbedingt als das Erzeugende angesehen werden?
  8. Warum muss das jedes Mal Gesprochene nicht unbedingt als das Erzeugte betrachtet werden?
  9. Was wirkt bestimmend auf den Geist zurück?
  10. Was wird durch die Laute und Gesetze der Sprache bestimmt?
  11. Woran ist das Denken geknüpft?
  12. Wozu kann das Denken, ohne eine Verbindung mit dem Ton einzugehen, nicht gelangen?
  13. Wodurch wird der Ton geformt?
  14. Worin besteht das eigentliche Wesen der Sprache?
  15. Womit wird die Artikulation verglichen?

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