Wasserleichen

Zur Darstellung der Wasserleiche in der expressionistischen Literatur

Es gab einen expressionistischen Affekt. Aus ihm formte sich der Kampf gegen Wissenschaftsdenken, Fortschrittsoptimismus, Bürokratie und wilhelminischen Geist. Nietzsche hatte es vorausgesehen: Die Deutschen brauchten die Konfrontation mit der eigenen Schwäche. Diese Erfahrung wirkte in ihrer Kraft tiefer und mächtiger als die Erinnerung an ein Subjekt, das mit seinen Idealen ins Dasein tritt und mit ihnen wieder daraus verschwindet. Im Expressionismus bekam die „Psychopathographik“ der Deutschen eine Stimme (vgl. Walter Müller-Seidel: Wissenschaftskritik und literarische Moderne. In: Die Modernität des Expressionismus, hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark. J. B. Metzler Verlag: Stuttgart 1994, 30). Seine Wirkung entfaltete dieser Komplex zum Beispiel in der Rezeption der Wasserleiche.

Ein riesiges Aufgebot von Wasserleichen begegnet uns in der Literatur. Im Expressionismus haben sich zum Beispiel Georg Heym („Die Tote im Wasser“, 1910; „Ophelia“, 1910), Armin T. Wegener („Die Ertrunkenen“, 1917), Gottfried Benn („Schöne Jugend“, 1912) und Georg Trakl („Wind, weiße Stimme“, „Westliche Dämmerung“, 1911) des Motivs angenommen. Das Motiv der auf dem Wasser treibenden Leiche bezieht seine Energie aus der Umkehrung des Motivs der Lebensreise (navigatio vitae).

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, wie Heraklit sagt. Immer strömen dir andere Wasser entgegen (ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ, B12). Bei Nietzsche bereits, der Heraklit zitiert, zeigt sich eine gewisse Nervosität, wenn von der „Reise“ oberflächlich nur, im Sinne eines europäisch geprägten Fortschritts- und Kulturoptimismus die Rede ist: „Wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja nichts als das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklits Satz“ (Aph. 223).

Streng genommen kann nicht von einer „Reise“ gesprochen werden. Die Reise hat es mit dem Fortgehen und dem Ankommen zu tun. Die Leiche in Georg Heyms Gedicht „Die Tote im Wasser“ aber treibt für sich. Ein Ziel ist nicht erkennbar. Sie wird mit dem Abwasser fortgeschwemmt, umgeben von Kot und Müll, bis sie zur Rattenfähre wird (vgl. V. 18–20).

Die Tote im Wasser

Die Masten ragen an dem grauen Wall
Wie ein verbrannter Wald ins frühe Rot,
So schwarz wie Schlacke. Wo das Wasser tot
Zu Speichern stiert, die morsch und im Verfall.
 
Dumpf tönt der Schall, da wiederkehrt die Flut,
Den Kai entlang. Der Stadtnacht Spülicht treibt
Wie eine weiße Haut im Strom und reibt
Sich an dem Dampfer, der im Docke ruht.
 
Staub, Obst, Papier, in einer dicken Schicht,
So treibt der Kot aus seinen Röhren ganz.
Ein weißes Tanzkleid kommt, in fettem Glanz
Ein nackter Hals und bleiweiß ein Gesicht.
 
Die Leiche wälzt sich ganz heraus. Es bläht
Das Kleid sich wie ein weißes Schiff im Wind.
Die toten Augen starren groß und blind
Zum Himmel, der voll rosa Wolken steht.
 
Das lila Wasser bebt von kleiner Welle.
– Der Wasserratten Fährte, die bemannen
Das weiße Schiff. Nun treibt es stolz von dannen,
Voll grauer Köpfe und voll schwarzer Felle.
 
Die Tote segelt froh hinaus, gerissen
Von Wind und Flut. Ihr dicker Bauch entragt
Dem Wasser groß, zerhöhlt und fast zernagt.
Wie eine Grotte dröhnt er von den Bissen.
 
Sie treibt ins Meer. Ihr salutiert Neptun
Von einem Wrack, da sie das Meer verschlingt,
Darinnen sie zur grünen Tiefe sinkt,
Im Arm der feisten Kraken auszuruhn.

Das Bild wirkt auf ganz andere Weise in dem 1995 von Nick Cave verfassten Lied „Where the Wild Roses Grow“ fort, ein Lied, das Cave zusammen mit seiner Band „The Bad Seeds“ im Duett mit Kylie Minogue aufgenommen hat. Es geht um eine durch einen geheimnisvollen Mord pervertierte Liebe. Von Kulturkritik ist keine Rede.

Aufgaben:

Analysieren Sie das Gedicht „Die Tote im Wasser“ mit Blick auf die Darstellung der Wasserleiche. Berücksichtigen Sie dabei die Epochenzugehörigkeit.

Hören Sie Nick Caves Mörderballade „Where the Wild Roses Grow“ und vergleichen Sie es anschließend mit Heyms Gedicht im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf die Darstellung der Leiche.

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