(Kirchen-)Politik und wissenschaftliche Expertise

Bertolt Brecht: Leben des Galilei


Es könnte dein Misstrauen gegenüber der Kirche verstärken, wüsstest du, wie widersprüchlich sie in der Sache Galileo Galilei vorgegangen ist. Es ist nicht so, dass die Kirche den Astronomen rundweg abgelehnt habe. Der rühmte sich, zahlreiche Gönner in der Kirche zu besitzen, unter ihnen sogar Kardinal Maffeo Barberini, den späteren Papst Urban VIII. Das Haupt der Kirche hatte, 1611, als Kardinal den Forscher als einen frommen und tugendhaften Mann von hohem Wert bezeichnet. Ein Gedicht hatte er auf dessen revolutionäre Entdeckungen am Himmel verfasst. Es trug den Titel „Adulatio perniciosa“ (Ungestüme Verehrung). Aber die Kirche war eine Kirche der Widersprüche. Es gab keinen Gegensatz, den sie nicht umfasste. Sie vereinigte alle möglichen politischen Formen in sich, war eine nicht vererbbare Monarchie, die sich ihre eigenen Gesetze gab, und hatte, wie alle anderen Staats- und Regierungsformen, politische Entscheidungen zu treffen.


Genau diese Dimension des großen Verhörs von 1633 hatte Brechts Interesse geweckt: Das problematische Verhältnis zwischen Politik und wissenschaftlicher Expertise zu zeigen, schien ihm ein Schauspiel wert.

Zwölftes Bild

Vor dem Großen Verhör

In dem vorliegenden Gespräch, das den Stoff der zwölften Szene in Brechts Theaterstück „Leben des Galilei“ bildet, will der Inquisitor den Papst dazu bringen, Druck auf Galilei auszuüben. Galilei soll zum Widerruf gezwungen werden. Das Gespräch findet vor einer wichtigen Audienz in den Gemächern des Vatikans statt. Gesprächsteilnehmer sind Papst Urban VIII. und der Kardinal Inquisitor. Der Papst gilt als wissenschaftsfreundlich und hat als Kardinal Galileis Forschungen befürwortet. Der Inquisitor fürchtet, dass Galileis Popularität beim einfachen Volk die Autorität der Kirche in Glaubensfragen untergräbt. Der Papst will Galilei in Schutz nehmen. Die Unterredung fällt in das Jahr 1633, das Jahr der Entscheidungen, in dem der Widerstand gegen Galilei derart angewachsen ist, dass es zum so genannten Großen Verhör kommt.

Die Strategie des Inquisitors: Agitation


Der Papst steht von Beginn an auf verlorenem Posten. Der Polemik des Inquisitors zeigt er sich nicht gewachsen. Ihm fehlen die Argumente: „Nein! Nein! Nein!“ (107). Die Strategie des Inquisitors besteht darin, Galilei vor dem Papst zu verunglimpfen und ihn für jedes Übel in der Welt verantwortlich zu machen: Unruhe (107), Glaubensverlust (107), Verstöße gegen die Gebote (107), Spottverse auf die Familie des Papstes (108). Zum anderen zielen seine Argumente darauf ab, den Papst einzuschüchtern: So zählt er dem Papst außenpolitische Konfliktherde auf, um deutlich zu machen, dass sich die Kirche keine weiteren Probleme mehr leisten könne. Des Weiteren warnt er davor, dass die Kirche ihre letzte Autorität bei den Gläubigen verlieren werde, falls Zweifel und Fortschrittsglauben überall Verbreitung fänden (108). Zuletzt agitiert der Inquisitor gegen die Maschinen und den Fortschritt und warnt vor dem Aufstand der Knechte, Fischweiber und Wollhändler (109).

Die Reaktion des Papstes: Gesteigerte Nervosität


Trotz seiner hohen Stellung gerät der Papst im Laufe des Gesprächs immer mehr unter Druck. Vielleicht ist es besser zu sagen: wegen seiner hohen Stellung. Der Papst muss sich zwischen der Staatsräson und seiner Autorität als oberster Glaubenswächter einerseits und seinen privaten Interessen andererseits entscheiden. Weil der Barberini-Papst ein Mäzen der Künste und der Wissenschaften ist, verteidigt er die Rechentafel (107) und die Zahlen. Sein erster Einwurf gegen Galilei gilt daher nicht einer Sach-, sondern einer Geschmacksfrage (109). Die Verbindung von Forschung und praktischem Nutzung weiß er sachgerecht einzuschätzen (109). Doch zeigt sich der Papst zusehends gereizter und angespannt wegen seiner
Amtspflichten, so dass Logik und klares Urteil aus dem Blick geraten (109). Die Staatsraison tritt in den Vordergrund: das Argument, welchen Eindruck ein erzwungener Widerruf Galileis bei den anderen Mächten hervorriefe (110). Das Gespräch nimmt eine Wende, als der Inquisitor die Frage berührt, wie Galilei zum Widerruf gebracht werden könne. Der Inquisitor unterstellt, dass schon die mildeste Folter genüge, um Galilei zu der erwünschten Aussage zu bewegen. Auch der Papst zeigt sich davon überzeugt (110). So einigen sich die beiden Gesprächspartner zuletzt.

Aufgaben:

  • Versuche dich als Theaterschauspieler im Brechtschen Sinne, indem du das Erzählerische in der Schilderung einer politischen Auseinandersetzung wirksam werden lässt. Erzähle, was du als Sekretär des Papstes mitbekommen hast!
  • Halte dich streng an Brechts Regeln, indem du das Einfühlende, Emotionale auslässt, mit anderen Worten, darauf verzichtest, dich in eine Bühnenfigur zu verwandeln (vgl. Tabelle, episches Theater)!
  • Orientiere dich inhaltlich an der zwölften Szene (S. 107–110)!
  • Schildere den Streit zwischen Papst und Inquisitor!