Empört euch!

Was der Mensch ist, wird mit dem Begriff der Verantwortlichkeit wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht. Der Begriff ist relativ neu. Die Römer kannten das Wort nicht. Von der Sache wussten sie, dass jemand vor Gericht für die Folgen seines Tuns Rechenschaft abzulegen hatte. Er hatte „sich zu verantworten“ (causam dicere). Aristoteles kannte die Freiwilligkeit einer Handlung und die Folgen einer Handlung. Ein eigenes Wort für den Begriff der Verantwortlichkeit prägte er genauso wenig wie Platon. Im deutschen Sprachraum ist das Wort „Verantwortung“ erst im 15. Jahrhundert in Gebrauch gekommen und mehrere Jahrhunderte lang auf das Gerichtswesen beschränkt gewesen. In der Diskussion um Stéphane Hessels Essay „Empört euch!“ gewinnt der Begriff, daran gemessen, enorm an Bedeutung. Er wird offen für eine Fülle an Auslegungsmöglichkeiten. Hessels Begriff der Verantwortung, in der Philosophie Sartres geschult, fordert uns auf, uns mit unserer Verantwortung nicht zu verstecken. Verantwortung könne nicht übertragen werden, „weder an irgendeine Macht noch irgendeinen Gott“: „ni à un pouvoir ni à un dieu. Au contraire, il faut s’engager au nom de sa responsabilité de personne humaine.“ (Indignez-vous ! édition revue et augmentée. Indigène éditions: Montpellier 2012, 6). Verantwortlich mache den Menschen die Freiheit seines Wesens, welche Engagement und damit Wege zu Vielem und Gegensätzlichem erlaubt. Freiheit brauche Verantwortung, um im Bild zu sprechen, wie der Atem die Lunge. Nur so wird sie reich an Möglichkeiten zur Selbsterhaltung.

Fragen aus dem Unterricht:

  • Frage dich zunächst, worin die Wirkung des Textes besteht: Wirkt er z. B. überzeugend auf dich, authentisch, durch die lange Lebenserfahrung Hessels reich an Gedanken und Erkenntnissen?
  • Oder wirkt er wie aus der Luft gegriffen, überholt, unklar, kritikwürdig?
  • Hast du den Eindruck, dass belehrend, „von oben herab“ gesprochen wird oder warmherzig, sympathisch?

Mangel an politischem Interesse

Mangel an Engagement lässt sich leicht feststellen. Der verantwortliche Mensch ist nämlich reichlich mit Rhetorik begabt. Die hilft ihm, mit seinem Desinteresse in der politischen Praxis fertigzuwerden. Außerdem fühlt er sich anderen Instanzen als denen der Polis verpflichtet. Ich unterstelle, dass der Student sich dem Professor verantwortlich fühlt, wie die Wissenschaftlerin der „Entdeckung“ einer Wahrheit. Der Manager blickt auf die Bilanz seiner Firma, wie die Lehrerin auf die Leistungen ihrer Klasse. Die Berufung auf andere Instanzen entbindet aber nicht von der moralischen Pflicht, sich im öffentlichen Bereich verantwortlich zu fühlen.

Aufgaben aus dem Unterricht:

  • Benenne das Thema des Essays „Empört euch!“ mit dem geläufigen Einleitungssatz und fasse den Inhalt nach Zeilen gegliedert zusammen.
  • Denke an die für die Inhaltsangabe festgelegten Regeln: korrekter Modus bei indirekter Rede, Präsensgebrauch, keine Zitate!

Quelle:

deutsch.kompetent. Ausgabe Nordrhein-Westfalen. Einführungsphase ab 2014. Schülerbuch. Ernst Klett Verlag: Stuttgart 2014, S. 92–93.

Formulierungsmuster:

EINLEITUNG

Freiheit braucht Verantwortung. Verantwortung aber zeigt sich im Engagement. Mit diesen Aussagen lasst sich der vorliegende Essay aus der Hand von Stéphane Hessel zusammenfassen. Der von Jean-Paul Sartre beeinflusste Diplomat, Schriftsteller und Widerstandskämpfer formuliert im Alter von 93 Jahren das Resümee eines politisch aktiven Lebens in einem nur 20 Seiten umfassenden Text, der weltweit für Aufsehen sorgt. In der folgenden Analyse werde ich versuchen, den Inhalten und der Wirkung seiner Botschaft auf den Grund zu gehen. Der Essay ist in der ersten Auflage unter dem Titel „Empört euch!“ 2010 erschienen.

INHALTSANGABE

  • Der Text wird mit einem Prolog eröffnet. Der Autor erklärt, warum er sich verpflichtet glaubt, der Nachwelt seine Erfahrungen weitergeben zu müssen (Z. 1–8).
  • Hessel ruft das Erbe der Résistance ins Gedächtnis und fordert dazu auf, im Sinne dieses Erbes Widerstand zu leisten gegen die internationalen Finanzmärkte (Z. 9–21).
  • Die Kraft der Empörung, fährt der Autor fort, könne den Lauf der Geschichte ändern. Es sei daher begrüßenswert, wenn möglichst viele Gründe fänden, sich gegen Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu empören. Empörung mache aktiv, stark und engagiert (Z. 22–38).
  • In einer komplexen Welt, gibt der Veteran der französischen Wiederstandsbewegung des Zweiten Weltkriegs zu bedenken, sei es nicht leicht, die Faktoren auszumachen, die Einfluss auf Geschichte und Gesellschaft haben. Wer sich aber heraushalte und „Ohne mich!“ sage, lasse wesentliche Fähigkeiten des Menschen vermissen: Empörung und Engagement (Z. 39–56).

HALTUNG DES VERFASSERS

Der Essay wirkt vor allem deshalb auf den Leser, weil dieser darin findet, dass er auf alles und eins angelegt ist. Nicht auf alles und jedes, sondern auf Allgemeines und Konkretes. Konkret ist die Erfahrung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, auf die der Autor zurückgreift. Allgemein ist die Offenheit des Appells.