Mein oft bestürmtes Schiff –

Nicht alle Reisenden gleichen einander – oder: Wie ist eine „einfache“ Interpretation möglich, die auf den allegorischen Sinn Rücksicht nimmt?

Karl Philipp Moritz hat gesagt, dass es für ein Kunstwerk von Bedeutung sei, ob es einfach ist: „[A]ufzählen, [das ist] eine Beleidigung des Kunstwerks […], dessen ganze Hoheit in seiner Einfachheit besteht.“ Gleiches gilt meiner Ansicht nach für dessen Interpretation. Auch die Interpretation hat zu fragen, welcher einfache Gedanke dem Kunstwerk zugrunde liegt. Ein einfacher Gedanke des allegorischen Zeitalters beispielsweise – denn ein Sonett des Barockdichters Andreas Gryphius soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen – ist ein historisch bedingtes Gebilde, das sich nicht ohne Weiteres in die Gegenwart übersetzen lässt. Überzeitliche Melancholie als Thema des 1643 erschienenen Sonetts „An die Welt“ zu bestimmen, ist daher nicht erlaubt. Die Traurigkeit des lyrischen Ichs, die diesem für die Wortkunst des Dichters bezeichnenden Text vorausgeht, ist nicht gleichzusetzen mit einer modernen Depression, welche mit Medikamenten behandelt werden könnte.

Eine Interpretation dieses Sonetts sollte diesem Umstand Rechnung tragen. Sie sollte mit der Frage einsetzen: Wie ist ein solcher Text angesichts dieser Traurigkeit möglich? Wird in diesen vierzehn Versen nicht vielmehr eine Traurigkeit thematisiert, zu der, im Kontrast zur Dichtung der Moderne, im gläubigen Vertrauen auf einen sicheren Hafen Distanz aufgebaut wird? So entstünde dann keine die Epoche lediglich „aufzählende“ Interpretation, sondern eine, die den einfachen Gedanken des Textes versteht.

Was ist eine Allegorie?

Augustins Lehre von der Auslegung der Bibel, wie sie in „De doctrina christiana“ überliefert ist, stellt im Rahmen des Deutschunterrichts sicherlich keines der gewohnten Themen dar. Nach den Gründen zu fragen, scheint überflüssig zu sein, sind doch die in dieser Schrift beschriebenen Methoden der Textauslegung hinreichend bekannt. Es herrsche doch Klarheit darüber, könnte eingewendet werden, was eine Allegorie ist und dass das lyrische Ich in dem angesprochenen Sonett zum Beispiel sich nicht auf einer Schiffsreise befindet. So bestehe kein Zweifel darüber, schreibt Augustin im Hinblick auf die allegorischen Darstellungsformen der Bibel, dass Eva, Adams Frau, nicht von einer Schlange angeredet wird, sondern dass das dunkle Tier gleichnishaft gemeint ist. Aber es fragt sich, ob nicht doch, im Allgemeinen, angenommen wird, dass etwas „erzählt“ wird in der „Schöpfungserzählung“. Dabei ist es so, dass ein einfacher Gedanke – die Verführbarkeit des Menschen – zu „verstehen“ gegeben wird.

So wird dem vorliegenden Sonett nur derjenige gerecht, dem klar ist, dass nicht von einer Schiffsreise erzählt wird. Was wird zu verstehen gegeben: Zum-Tode-betrübt-Sein oder stoische Ruhe?

Mein offt bestürmbtes Schiff der grimmen Winde Spil
Der frechen Wellen Baal / das schir die Flutt getrennet
Das über Klip auff Klip' / und Schaum / und Sandt gerennet;
Komt vor der Zeit an Port / den meine Seele wil.

Offt / wenn uns schwartze Nacht im Mittag überfil
Hat der geschwinde Plitz die Segel schir verbrennet!
Wie offt hab ich den Wind / und Nord’ und Sud verkennet!
Wie schadhafft ist der Mast / Steur / Ruder / Schwerdt und Kill.

Steig aus du müder Geist / steig aus! wir sind am Lande!
Was graut dir für dem Port / itzt wirst du aller Bande
Und Angst / und herber Pein / und schwerer Schmertzen loß.

Ade / verfluchte Welt: du See voll rauer Stürme!
Glück zu mein Vaterland / das stette Ruh' im Schirme
Und Schutz und Friden hält / du ewig-lichtes Schloß.

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