Der Glauben als Bogen

Lessings aufgeklärtes Religionsverständnis

Lessing: Der Besitzer des Bogens/Deutsches Textarchiv

Gotthold Ephraim Lessing hat dem konfessionellen Zeitalter sein einheitliches Menschenbild entgegengesetzt. Es ist überkonfessionell, individualistisch und subjektivistisch gemeint, geleitet von der Überzeugung, jeder Mensch sollte selbst entscheiden können, welche Religion ihm passend erscheint. Die mit diesem Menschenbild verbundene Religionskritik ist nicht vordergründig – im Gegenteil, Konfession und vom konfessionellen Staat gelenkte Glaubenspraxis werden als bloße Äußerlichkeiten („Zierraten“) betrachtet, die vom inneren Raum individueller Glaubensüberzeugung getrennt werden müssen. Das verdeutlicht die folgende Fabel:

Der Besitzer des Bogens

Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoss, und den er ungemein wert hielt.

Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! — Doch dem ist abzuhelfen; fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. — Er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt, als eine Jagd?

Der Mann war voller Freuden. „Du verdienest diese Zierraten, mein lieber Bogen!“ — Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen — zerbricht.

Das ist vorwegnehmend im Sinne der Formel: „Form follows function“. Es ist, rückwärts blickend, gegen das dekorativ überfordernde Zeitalter, den Barock, gerichtet. Wenn Lessing im Kontext der Ringparabel die Funktion der Religion beschreibt („Ich höre ja, der rechte Ring / Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und Menschen angenehm“, V. 2015–2017), bereitet er damit die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) vor, zu der die „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing) vorstoßen wird. Der durch die Kunst des Goldschmieds verdreifachte Ring – hier der glatte Bogen, ohne den überflüssigen Zierrat – wird zur Metapher der Funktion. Die Religionen seien als Offenbarungsreligionen nicht mehr vonnöten.

Das Christentum sei daher wegen der praktischen Art seines Lehrers Jesus Christus zu beglückwünschen. Dieser habe den Bogen richtig zu führen gewusst: „§ 58 Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele. […] § 60 Denn ein anders ist, die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Spekulation, vermuten, wünschen, glauben: ein anders, seine innern und äußern Handlungen darnach einrichten“ (Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, hrsg. und kommentiert von Walter Sparn, Große Texte der Christenheit, Band 5. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2018). Und so habe Christus durch sein liebendes Beispiel den praktischen Zweck der Religion dargelegt. Genau dies begründe den Vorrang der deistischen vor der theistischen Position.

Indem Lessing im Ideendrama „Nathan der Weise“ die Entwicklung des Tempelherrn beschreibt, sagt er damit auch: Erst der Verzicht auf den Totalanspruch der theistischen Position begründet, was dem aufgeklärten Christen wesentlich ist. Erst die Toleranz macht aus dem Tempelherrn einen Christen der neuen Zeit, dem es möglich ist, mit den Sanktionen und Provokationen alter Zeit abzuschließen.

Arbeitsanregungen:

  • Fassen Sie den Inhalt der Fabel mit eigenen Worten zusammen.
  • Welche Lehre lässt sich der Fabel entnehmen?
  • In welcher Beziehung kritisiert die Fabel das konfessionelle Zeitalter und formuliert damit das Selbstverständnis der Aufklärung?
  • Die Fabel gilt als bevorzugte Kunstform der Aufklärung. Begründen Sie, warum.