Die feinere Kunst des Reisens

Paul Gerhardts „Abendlied“ Wer erinnert sich nicht an Paul Gerhardts „Abendlied“ mit dem Eindruck, dass darin von dem innigen Einvernehmen zwischen Himmel und Erde die Rede sei? In schlichten Worten wird der Blick in den Kosmos eröffnet: „Der Tag ist nun vergangen, / Die güldnen Sterne prangen / Am blauen Himmelssaal“. Keine Grenze scheint dem Auge des Betrachters gesetzt, wenn es in den Nachthimmel blickt. Paul Gerhardts „Abendlied“, im vorletzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges erschienen, ist aber auch als Mahnung zu verstehen: Denn auch die Verlassenheit der Welt vom Leben zeigt sich am Abend. Paul Gerhardt: Abendlied (1647)                                                                  […]

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Abendlied

Paul Gerhardt: Abendlied (1647)                                                                  Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt und Felder, Es schläft die ganze Welt; Ihr aber, meine Sinnen, Auf, auf, ihr sollt beginnen, Was eurem Schöpfer wohlgefällt.   Wo bist du, Sonne, blieben? Die Nacht hat dich vertrieben, Die Nacht, des Tages Feind; Fahr hin! Ein andre Sonne, Mein Jesus, meine Wonne, Gar hell in meinem Herzen scheint.   Der Tag ist nun vergangen, Die güldnen Sterne prangen Am blauen Himmelssaal; Also werd ich auch stehen, Wenn mich wird heißen gehen Mein Gott aus diesem Jammertal.   Der Leib eilt nun zur Ruhe, Legt […]

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Auf ihre Schultern

Petrarkistisches Schönheitslob Wie oft haben wir jemanden auf die beste Weise gekleidet gesehen? – so wie beim Sonett, genau genommen beim petrarkistischen Schönheitspreis: Zeichnet es nicht die Linien des Körpers aufs Vorteilhafteste in allen Einzelheiten nach? Das Sonett führt die in ihm behandelte Form zur Formvollendung. Vergesst diese Frau nie! Ihre Schultern sind einziger Art. Dass Schönheit und Zeit zueinander im Widerspruch stehen, zeigt das Sonett aber auch. Es genügt nicht, dass es Schönheit gibt, sie muss auch zerstört werden! Dann schlägt die Form um in die schwelgerische Darstellung der Vanitas, die der Vollkommenheit dem Wesen nach widerspricht. Liebe, […]

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Unterwegssein

Wege und Scheidewege Es ist eine große Vermessenheit, das Unterwegssein beschreiben zu wollen. Wege haben viele Gesichter. Wege sind immer länger als die Umstände, die der, der sie beschreitet, sich ihretwegen macht. Wir könnten Wege nennen, die sich absolut ins perspektivisch Verzerrte verlieren, freie Wege sozusagen, über die ins Gespräch zu kommen schwierig wird. „Alle Gewässer durchkreuzt’ Odysseus, / die Heimat zu finden“ – heißt es meisterhaft bei Friedrich Schiller –, und er, der Verschlagene, erkennt am Ende das Vertraute, die Heimat nicht wieder. Darum gibt es Scheidewege, die die Geheimnisse der Wege, die sie anzeigen, zwar nicht preisgeben, […]

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Die große Klage

Der Dreißigjährige Krieg im Spiegel barocker Gedichte Der Barock hat sich diese beiden Worte zu eigen gemacht: „Angst“ und „Tränen“. Einer der bekanntesten Texte des Dichters Andreas Gryphius’ trägt den Titel „Tränen des Vaterlandes“, als könnte er dieses Wort nicht oft genug wiederholen. Der Dichter nimmt sich selbst dabei nicht aus: Es geht nicht darum, aus der Perspektive eines abgeklärten Philosophen vielleicht, das Leid der Anderen zu betrachten, das er selbst abgeworfen hat. Es geht darum, zu klagen und zu leiden angesichts der großen Verwüstungen, des „Tobens der Feinde“, bei dem auch die Seele Schaden nimmt. Den Hintergrund bildet […]

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Pilgerlied

Der Himmel als Landkarte des Pilgers Als unwidersprochen im Hinblick auf den Barock gilt die Behauptung, dass die Kirche in dieser Epoche wieder zu Kräften gekommen sei. Die Weite des Sternenhimmels sei nach dem Ende der konfessionellen Kriege wieder über das Bewusstsein der Gläubigen gezogen. Darum finde seine Nachbildung sich so oft auf den Decken barocker Kirchen, intensiv leuchtend. Auch das vorliegende Gedicht, Sigmund von Birkens „Pilgerlied“ aus dem Jahr 1652, erscheint als logische Konsequenz dieser Ausweitung des Himmels. Meine These ist, dass dieses Gedicht nicht ohne die Problematik des wieder zu Kräften gekommenen, mystischen Sternenhimmels begriffen werden kann. […]

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Die Sackgasse der Metropole

Paul Boldts expressionistisches Gedicht „Auf der Terrasse des Café Josty“ Der Wert einer Erinnerung: der lebenssteigernde Wert einer hinderlichen Erinnerung. Versteht sich der Expressionismus als hinderlich, hat auch dieses schlichte Gedicht Paul Boldts mit dem Titel „Auf der Terrasse des Café Josty“ durchaus Wert. Denn der Text weicht in archaische Erinnerungen aus. Das Sonett ist auf vorgeschichtliche Phänomene, auf eiszeitliche Gletscher und Lawinen bezogen, obwohl es vom Umbruch zur Moderne handelt. Anders gesagt: der Potsdamer Platz und der fieberhafte Verkehr auf dem Platz werden dargestellt, die Geschwindigkeitsphantasien der Moderne. Die Geschwindigkeit der vor dem Auge des Betrachters sich bewegenden […]

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