Hofmannsthal: Ein Brief

Immer wieder ist die Frage nach der Intention des 1902 veröffentlichten, Epoche machenden „Briefs“ Hugo von Hofmannthals gestellt worden. Ist es die Frage nach dem eigenen Weg? Ist es eine Studie über die Biographie des österreichischen Dichters selbst, der sich ähnlich wie der fiktive Verfasser des berühmten „Briefes“ für eine geraume Zeit in einer Entwicklungskrise befunden hat? Das ist nicht auszuschließen, wenn dabei nicht „die kategoriale Verschiedenheit von Biografie und Dichtung“ (Szondi 1978: 266) übersehen wird. Mag der „Brief“ auch schwierig erscheinen, so bietet er doch genügend Anregungen, ihn kritisch zu diskutieren. Lord Chandos macht der Sprache den Prozess; […]

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Nosce te ipsum

Dreißig Jahre nach der schwierigen Korrespondenz mit dem Lordkanzler Francis Bacon lebte Lord Chandos noch. Wie lange nachher, weiß man nicht. Im Alter soll er nicht mehr so einsam gewesen sein. Manche haben ihn in der Kirche gesehen, schlank wie in der Jugend, das Gebetbuch zwischen den faltigen Händen.     Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief Lösungen darf man im Brief des Lord Chandos nicht suchen. Immer wieder richtet sich der Blick dieser historisch kaum fassbaren Lordschaft auf das, was er als seine Entwicklung erkannt hat. Er versucht den Stellenwert einzelner Werke zu bestimmen. Wessen Werke sind es? Hat […]

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Bei deiner Kuh

Bei deiner Kuh hast du Fried’ und Ruh. Die Natur schiebt der Sprache den Riegel vor. Warum also sollte die Kuh die Sprache gegen die Sprache gebrauchen?    Von der Wende zur literarischen Moderne ist die Rede, seit die Sprache für die Literaten an Bedeutung verliert. Insbesondere Schriftsteller der Dekadenz wie Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) halten daran fest, dass die Sprache nichts mehr tauge. Für ihn will das heißen, dass sie auf ihre kommunikative Rolle eingeschränkt worden ist. Dass die Sprache „so abgegriffen wie schlechte Münzen [sei]“ (Hugo von Hofmannsthal, GW X 413 [Aufzeichnungen 1896]), will sagen, dass sie, […]

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Lebhafter Grenzverkehr

Wie deutsch ist unsere Literatur? Sachtextanalyse Die Frage nach der deutschen Literatur hat mit der Frage nach der deutschen Sprache viel gemeinsam. Denn die Analyse der Sprachentwicklung hat gezeigt, dass die deutsche Sprache als Mischsprache zu verstehen sei und nicht als Sprache eines einzelnen Stammes. Auch für die deutsche Literatur verhält es sich so, dass kaum etwas sich in gerader Linie fortgesetzt hat. Deutsche Literatur als Literatur deutscher Nation findet sich, genau genommen, erst seit dem Januar 1871. Deutsche Literatur als Literatur der Deutschen dagegen lässt sich im 13. Jahrhundert und davor, im religiösen Bereich vor allem, in karolingischer […]

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Schöner grübeln

Der Elefant verließ an diesem Tage gar nicht mehr das Gehege. Gegen Abend ging er in den Gang, der auf das Becken der Kraniche hinausläuft, und sah auf das Wasser. Aus irgendeinem Grund hatte der Dickhäuter Geschmack am Grübeln gefunden. Den Besuchern gefiel es, ihn dabei anzustarren. Es hatte eine erhebende Wirkung, wie man hörte, wenn der Elefant, den Zusammenhang zwischen Kopf und Rüssel begreifend, seltsame Zeichen in den Sand schrieb. Wenn der Wärter seinen Kopf streichelte, hielt er inne und flüsterte mit dem Elefanten, dass er alles kenne, dass er ihn verstehe.

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Neben der Spur

Philosophie des Standortes Was Berlin für ihn war, war schwer auszusprechen. Niko zündete sich eine Zigarette an. Der Toaster diente als Feuerzeug.  Für Niko selbstverständlich: eigene Wohnung, eigenes Geld, Kaffee, Zigaretten. Nur manchmal stöhnte er über die Preise. Die Philosophie ist eine sehr alte Wissenschaft. Sie bezeichnet zunächst den Punkt, an dem unsere Lebenslinie vom Unendlichen durchschnitten wird. Die Philosophie legt dem Leben damit eine neue Bedeutung unter, indem sie die Bemühung darstellt, diesen Punkt zu erhellen. Die Philosophie als das Wissen über diesen Punkt steht also über oder neben dem unmittelbaren Dasein. Wer philosophiert, schließt das dem Leben […]

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Beim Doktor

Georg Büchner: Woyzeck Auch der Doktor unterwirft sich Woyzeck. Er trägt dazu bei, dass das Eifersuchtsdrama (Marie – Tambourmajor – Woyzeck) sich zum Wissenschaftsdrama (Doktor – Woyzeck) wandelt. Trotz des Wechsels ist der Gegenstand derselbe: Es geht beidesmal um den unterprivilegierten Woyzeck. Was das Eifersuchtsdrama angeht, Woyzecks körperliche Defizite werden im Vergleich mit dem Tambourmajor sichtbar. Dem Doktor gegenüber ist „Subjekt“ Woyzeck in anderer Weise bedürftig. Da Woyzeck arm ist, ist er zum Schaffen getrieben, existiert alles – einschließlich des an ihm angestellten Experiments – nur um des Geldes willen. Er ist also zu der seinen Organismus und Verstand […]

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