„Choc, Trauma und Nervosität“

Expressionismus und Zeiterfahrung Bereits in der Antike hat man sich über das zunehmende Tempo beklagt: Früher ritt man gemächlich zu Pferde, heute führt man Viergespanne. „Heute hat sich die Reitkunst ins Dämonische verkehrt“ (vgl. Tertullian: De spectaculis 9, 1). Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich, wie die Geschichtswissenschaft betont, mit der technischen Entwicklung auch die Wahrnehmung der Zeit. Das intuitive Erlebnis einer vorbeifahrenden Straßenbahn mit einer Geschwindigkeit von 15 km/h zum Beispiel ist heute von anderer Qualität als 1913. Man kennt zwar schon die Straßenbahn – zunächst wird sie von Pferden gezogen –, aber die Wahrnehmung der Straßenbahn ist, […]

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Der Wahnsinn

Expressionismus und Wahnsinn Von Orest wird berichtet, er sei mehrere Jahre häufig wiederkehrenden Depressionen verfallen gewesen. Die Krankheit war so ernst, dass man keinen Rat wusste und die Krankheit daher „Wahnsinn“ nannte. Dieser Wahnsinn, wie er in Goethes Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“ (1786) gespiegelt wird, ist wie ein Bote, der dem expressionistischen, an Friedrich Nietzsches Schriften geschulten Diskurs über den Wahnsinn um mehr als hundert Jahre vorauseilt. Der Diskurs über den Wahnsinn, der die Kritik an dem, was als „normal“ gilt, beinhaltet, ist letztlich Kulturkritik. Expressionismus ist aufs Äußerste getriebene Kulturkritik, Kritik an der fortgeschrittenen Industrialisierung, Verwissenschaftlichung und schließlich […]

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Über Orest

An Goethes Gestaltung der Figur Orest wird deutlich, wie Charaktere in ihr Gegenteil umschlagen können. Fühlt der junge Orest wie eine Figur des Sturm und Drang sich belebt durch die Bestimmung zur Freiheit, empfindet der ältere Orest, von den Erinnyen verfolgt, tief die Unmöglichkeit der Freiheit. Will der Leser die Figur des Orest richtig erfassen, muss er diese doppelte Bestimmtheit berücksichtigen. Natürlich hat der Muttermord den Bruch herbeigeführt. Daran darf der Leser nicht vorbeigehen: Orest ist ein schuldbeladener Charakter. Es muss jedoch festgehalten werden: Die wahnsinnige Klage des Orest verweist darauf, wie sehr er die Mutter geliebt hat.

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Form ist Ausdruck

Weiblicher Expressionismus Immer wieder wird man versuchen, den Expressionismus als in sich geschlossene Entwicklung zu begreifen. Man spricht gern davon, dass er als Reaktion zu verstehen sei, als Aufschrei junger Künstler gegen die unerträglichen, chauvinistischen Zustände im deutschen Kaiserreich. Formal ist mit dem Begriff „Expressionismus“ die Verzerrung der Raumanschauung, die kubische Darstellung der Details und die damit verbundene Auflösung der Struktur gemeint – die Absage an realistische Gestaltungsprinzipien. Über das Recht, den Begriff so zu vereinheitlichen, muss nicht diskutiert werden, denn es gibt durchaus diese Übereinstimmungen innerhalb des Expressionismus. Interessant ist allerdings der Versuch, die Stimme der Frau innerhalb […]

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