Die Irren

Georg Heym

Man sagte immer, Deutschland sei das Land der Irren. Das gilt natürlich, wenn man den Expressionismus in den Blick nimmt, zum Beispiel das Gedicht „Die Irren“ (1910) von Georg Heym. Es war so formlos und verwirrend, obwohl es an die barocke Form des Sonetts gebunden ist.

Es war so überwältigend neu: Hier bekam der Wahnsinn eine Stimme. Nietzsche hatte es vorausgesehen: Die Deutschen brauchten die Konfrontation mit der eigenen Schwäche, dem Ich-Zerfall. Georg Heym wies darauf hin: Hier klebten Menschen wie Spinnen an den Wänden, hier wurde der Umbruch plastisch, das Subjekt war verschwunden und ersetzt worden durch das Ungeziefer.

„Die Irren“ ist ein lautes Gedicht. Die grelle „Psychopathographik“ ist das vorherrschende Thema (vgl. Walter Müller-Seidel: Wissenschaftskritik und literarische Moderne. In: Die Modernität des Expressionismus, hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark. J. B. Metzler Verlag: Stuttgart 1994, 30). Niemand kann sich hier ruhig-reflektierend niederlassen, wie es bei den melancholischen „Klinggedichten“ barocker Autoren möglich ist.

Die strophische Gestaltung der Verse entspricht der italienischen Grundform des Sonetts mit umarmenden Reimen (abba, bccb) in den Quartetten. In den Terzetten finden sich in Heyms Gedicht neue Reimsilben, die nach einem dreireimigen Schema aufgebaut sind: ded, eed. Der Vers ist fünfhebig und entspricht insofern dem fünfhebigen Jambus des Dramas (Blankvers), welcher allerdings ohne Reim auskommt. Der fünfhebige Jambus erlaubt verschiedene Abstände zwischen den syntaktischen Gruppen, er ist nicht symmetrisch gebaut wie der Alexandriner, mit der regelmäßigen Zäsur in der Mitte.

Form und Inhalt widersprechen einander.

  1. In der ersten Strophe ist die Rede von einer Art Käfig. Die als „[d]ie Irren“ bezeichneten Kranken halten sich an den Wänden und Gittern einer Irrenanstalt auf.
  2. In der zweiten Strophe wechselt das Bild. Die „Irren“ veranstalten einen Ball, der durch einen wahnsinnigen Schrei aufgelöst wird.
  3. Der Wahnsinn hat Folgen. In der dritten Strophe geht es darum, dass ein Arzt von einem Kranken gepackt und erschlagen wird.
  4. Amüsiert schauen die anderen Insassen der Irrenanstalt zu, bis sie durch die Peitsche eines Aufsehers davongejagt werden.

Der herausgehobene Irre gibt sich durch sein unnatürliches Brüllen zu erkennen. Er schreit wie ein urzeitliches Monster – was durch die Personifikation des Wahnsinns unterstützt wird („Plötzlich schreit / Der Wahnsinn auf“, V. 6–7). Die Unnatürlichkeit des Lärms hat etwas Gottloses an sich, bestätigt aber die Autorität der Götter nicht, sondern widerlegt sie.

Georg Heym:

Die Irren

Juni 1910

Der Mond tritt aus der gelben Wolkenwand.
Die Irren hängen an den Gitterstäben,
Wie große Spinnen, die an Mauern kleben.
Entlang den Gartenzaun fährt ihre Hand.

In offnen Sälen sieht man Tänzer schweben.
Der Ball der Irren ist es. Plötzlich schreit
Der Wahnsinn auf. Das Brüllen pflanzt sich weit,
Dass alle Mauern von dem Lärme beben.

Mit dem er eben über Hume gesprochen,
Den Arzt ergreift ein Irrer mit Gewalt.
Er liegt im Blut. Sein Schädel ist zerbrochen.

Der Haufe Irrer schaut vergnügt. Doch bald
Enthuschen sie, da fern die Peitsche knallt,
Den Mäusen gleich, die in die Erde krochen.

Arbeitsanregungen:

  • Beschreiben Sie Ihre ersten Eindrücke.
  • Versuchen Sie das Gedicht zu illustrieren.

Weitere Anregungen:

Georg Heym: Die Irren