Gingko biloba
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?
Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn:
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich Eins und doppelt bin?
Interpretationshypothesen:
Der Lieblingsbaum Johann Wolfgang von Goethes ist der Ginkgo-Baum, das lebende Fossil, das im 18. Jahrhundert auch in Europa heimisch wurde. Die Bildung des Blattes ist derart beschaffen, dass Goethe es „als Sinnbild der Freundschaft“ an Frau Willemer schickt (Gespräche mit Eckermann). Trotz dieser äußeren Absicht ist das Gedicht „Ginkgo biloba“ in erster Linie nicht als Liebesgedicht aufzufassen, sondern als Gedicht über den Menschen als Mikrokosmos. Im Kontext der pansophistischen Studien des Autors finden sich gehäuft Hinweise dafür, dass diese Auffassung berechtigt ist. Das heißt, dass dem Bild vom Menschen die Idee zu Grunde liegt, dass die Ordnung im und zwischen den Menschen der Ordnung in der Natur und dem Geschehen in der Natur entspricht. Mit einem Beispiel gesprochen: der Autor trennt nicht zwischen der Bewegung, die beim Ein- und Ausatmen wirksam ist, und der Bewegung, die die Gezeiten entstehen lässt. Für Goethe ist es „die ewige Formel des Lebens“, dass die Welt (Makrokosmos) und der Mensch (Mikrokosmos) in analoger Weise miteinander verbunden sind. Goethe hat diese Idee insbesondere im „Faust“ verfolgt. Faust, dem Zeichen des Makrokosmos hingegeben, erkennt, dass alles in der Welt harmonisch zusammenwirkt:
„Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!“
(V. 447–453)
Die Einheit von Verbindendem (Geist) und Verbundenem (Materie) liegt in dem Gedicht „Gingko biloba“, welches in erster Fassung 1815 entstanden ist, im Sinnbild des Blattes vor.
Bemerkungen zur Form:
Das Gedicht enthält drei vierzeilige Strophen. Weibliche (1. Strophe: „Ósten“/„kósten“) und männliche Reime („ánvertraút“/„erbaút“) wechseln einander ab. Der einzelne Vers ist viertaktig. Wer den ersten Vers laut liest, wird vielleicht die künstlich erscheinende Stellung des Genitivs („Dieses Baums Blatt“ anstelle von „Das Blatt dieses Baumes“) bemerken. Daraus wird er jedoch leicht die Einsicht gewinnen, dass der vierhebige Trochäus die grundlegende Ordnung in allen zwölf Versen darstellt („Díeses Baúms Blatt, dér von Ósten / Meínem Gárten ánvertraút / […]). Das heißt: Nach stockendem Beginn werden die Verse fließender, die Unterbrechung ist mit Bedacht gesetzt, um den Leser zum Nachdenken über Einheit und Zweiheit zu zwingen.
Bemerkungen zum Inhalt:
1. Strophe:
Die geistige „Natur“ des Gingkoblattes gibt Rätsel auf.
2. Strophe:
Der Sprecher fragt sich, ob das Blatt als Einheit oder Zweiheit anzusehen sei.
3. Strophe:
Das lyrische Ich verweist auf sein Werk: Seine Lieder spiegeln Einheit und Zweiheit des Dichters wider.