Der unzuverlässige Erzähler

Der vermeintliche Tod des Grafen F… Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… Es lohnt sich, mit einem Blick in die Sekundärliteratur zu beginnen, bevor die Lektüre der folgenden Passage Widerspruch hervorruft. Dirk Grathoffs Argumentation in seinem zweiten „Annäherungsversuch an eine komplexe Textstruktur“ (Dirk Grathoff: Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… Drei Annäherungsversuche an eine komplexe Textstruktur. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts Bd. 1, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8413: Stuttgart 1988, S. 97–131) ist auf die zwei sozialen Instanzen abgestellt, denen die Marquise ihren Tribut zollt: die Familie, durch die die soziale Identität der Marquise verbürgt […]

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Die „unmöglichen“ Rechte der Familie

Die kleistsche Erzählung „Die Marquise von O.“ vor dem Hintergrund der dargestellten Kriegshandlungen Der Kommandant In der Perspektive des Kommandanten ist alles mit dem Koalitionskrieg verbunden, jeder Angreifer willens, die Auswüchse der Französischen Revolution auf italienischem Boden zu bekämpfen. Er betrachtet die Zitadelle so lange als französisches Staatsgebiet, bis der Krieg auf sie übergreift. Die Familie, eingeschlossen die verwitwete Marquise mit ihren Kindern, steht außerhalb dieser territorialen Ordnung. Sie ist kein Staatsgebiet oder koloniales Gebiet; sie ist, seit der Geltung des Code Civil, prinzipiell auch nicht mehr okkupierbar. Zwar bleibt die Familie weiterhin der väterlichen Gewalt unterworfen, doch wird […]

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Kleists berühmter Gedankenstrich

Die Marquise von O… und Kleists dramatische Erzählkunst Vorstufen und Überarbeitungen einer Interpretation der Vergewaltigungsszene Der Vordenker der Frühromantik, Heinrich von Kleist, schildert in seiner Novelle „Die Marquise von O…” aus dem Jahr 1808 die außereheliche und unter skandalösen Umständen herbeigeführte Schwangerschaft der fiktiven Marquise von O…, einer innerhalb eines französischen Besatzungsgebietes in Italien lebenden Adeligen, die sich den strengen Konventionen und Normen ihrer Zeit unterwerfen muss. Kleist setzt sich in der Novelle gesellschaftskritisch mit patriarchalischen Familienstrukturen, eingeschränkter Selbstbestimmtheit der Frau und bürgerlicher Doppelmoral auseinander. Absonderliche menschliche Charakterzüge kommen dabei auf nahezu filmische Art und Weise zum Vorschein. Die […]

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Kleists Kippfiguren

In der wissenschaftlichen Kleist-Forschung ist die Kippfigur so etwas wie eine Leitidee. Das Inventar der kleistschen Figuren wird nicht nach guten und bösen Naturen aufgeteilt. Die Aufteilung geht mitten durch das Herz der Figuren. Die Kippfigur ist die Figur, die unerwartet in ihr Gegenteil umschlägt, wie ein bekanntes Beispiel aus dem Kanon optischer Täuschungen zeigt. Die dargestellte Frau ist nicht mit einer älteren Frau, deren große Nase eine Warze ziert, zu verwechseln. In den Augen der Marquise von O. – und damit auch aus der Perspektive des dadurch beeinflussten, „mitfühlenden“ Lesers – stellt sich Graf F. beispielsweise, um die […]

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Fama crescit

Die „unmögliche“ Schwangerschaft der Marquise von O. Als Colin Powell, der ehemalige Außenminister der USA, der Welt verkündete, im Irak gebe es Massenvernichtungswaffen, stützte er sich auf Falschmeldungen. Colin Powell schwor damit die Welt auf den lange Jahre währenden Irakkrieg ein. Wenn in der aktuellen Berichterstattung von Fake News gesprochen wird, dann sind meist auch deren verheerende Folgen gemeint. Immer wieder stellt sich die Frage, ob eine vom Hörensagen gestützte Geschichte Wahrheit beanspruchen darf, welchen Schaden sie anrichten kann. So groß ist der Unterschied zwischen den aktuellen „alternativen Fakten“ und den Falschmeldungen in der Antike dabei nicht. Als Sinon, […]

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