Der vermeintliche Tod des Grafen F…
Heinrich von Kleist: Die Marquise von O…
Es lohnt sich, mit einem Blick in die Sekundärliteratur zu beginnen, bevor die Lektüre der folgenden Passage Widerspruch hervorruft. Dirk Grathoffs Argumentation in seinem zweiten „Annäherungsversuch an eine komplexe Textstruktur“ (Dirk Grathoff: Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… Drei Annäherungsversuche an eine komplexe Textstruktur. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts Bd. 1, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8413: Stuttgart 1988, S. 97–131) ist auf die zwei sozialen Instanzen abgestellt, denen die Marquise ihren Tribut zollt: die Familie, durch die die soziale Identität der Marquise verbürgt wird, einerseits und andererseits die Öffentlichkeit, deren Spott die Marquise ihres vaterlosen Kindes wegen fürchtet:
„So bleibt nach dem Lossagen von der Familie der Marquise nur ‚der Gedanke […] unerträglich, dass dem jungen Wesen […] ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte‘. Die soziale Identität wird sprachlich durch den Namen gesetzt, wobei schon festzustellen war, dass die Marquise selbst nicht eine, sondern mehrere Identitäten hat, einen Identitätswandel durchläuft von dem Fräulein von G… über die Marquise von O… zur Gräfin F… Der geheime Skandal dieser sozialen Identitätssetzung ist offenbar die Zugehörigkeit zur Familie, der Skandal ist so groß, dass die Namen der Familien verschwiegen werden müssen: G… und O… und F…“.
ebd., S. 114–115.
Dieser Spott muss, was die folgende Textpassage anbetrifft, nicht ins Auge gefasst werden, die Schande ist abgewendet worden, durch das Eingreifen des Grafen F…, indem dieser die Vergewaltigung scheinbar vereitelt hat. Dass der Wandel der Marquise bereits begonnen hat, dass der Krieg und die an der Marquise begangene Gewalttat nicht ausgeklammert werden können aus dem Leben der Familie, geht allerdings aus dem Folgenden hervor. In die Darstellung der Familie, die dem bürgerlichen Anstand gemäß dem Grafen ihren Dank aussprechen möchte, dringen Schrecken und Argwohn.
„Die Familie dachte nun darauf, wie sie in der Zukunft eine Gelegenheit finden würde, dem Grafen irgendeine Äußerung ihrer Dankbarkeit zu geben; doch wie groß war ihr Schrecken, als sie erfuhr, dass derselbe noch am Tage seines Aufbruchs aus dem Fort, in einem Gefecht mit den feindlichen Truppen, seinen Tod gefunden habe.“
Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. Hamburger Lesehefte Verlag: Husum 2018, S. 6.
Schrecken und Argwohn
Der Eindruck entsteht, dass die Familie von G. den vermeintlichen Retter schon vergessen hat, der Erfüllung ihrer Dankespflichten zumindest nur zögerlich und oberflächlich nachkommt. Dieser Verdacht wird am Ende der vorliegenden Passage bestätigt, wenn es heißt, dass die Marquise den russischen Offizier nach der Tat nicht persönlich aufgesucht habe und ihn nach Monaten „vergessen konnte“ (ebd. S. 7, Z. 9). Gegen diesen Verdacht spricht, dass die Familie sich bemüht, wie der Erzähler weiß, dem Grafen eine „Äußerung ihrer Dankbarkeit“ zukommen zu lassen; doch bleibt es unbestimmt, welche („irgendeine Äußerung“, ebd.), und ungewiss, wann („in der Zukunft“, ebd.). Das klingt wiederum nicht nach einem Herzensbedürfnis und nach einem schnellen Dank. Der oberflächlichen Erinnerung an die vermeintlich verhinderte Vergewaltigung der Tochter stehen die durch ein Postamt überlieferten vermeintlich letzten Worte des Grafen diametral entgegen, drücken sie doch dessen tiefes Bedürfnis aus, etwas Ungenanntes im eigenen, durch eine feindliche Kugel auf dem Schlachtfeld herbeigeführten Tod wiedergutzumachen.
„Der Kommandant, der sich selbst auf das Posthaus verfügte, und sich nach den näheren Umständen dieses Vorfalls erkundigte, erfuhr noch, daß er auf dem Schlachtfeld, in dem Moment, da ihn der Schuss traf, gerufen habe: ,Julietta! Diese Kugel rächt dich!‘ und nachher seine Lippen auf immer geschlossen hätte.“
ebd. , S. 6.
Der unzuverlässige Erzähler
Die Darstellung erweist sich infolge der Darstellungsweise als unzuverlässig. Die Forschung ist dazu übergegangen, von einem „unzuverlässigen Erzähler“ zu reden. Dieser hat derart Skandalöses zu berichten, dass er nicht einmal die Namen der beteiligten Personen und die Namen der Schauplätze nennen kann. „Das zentrale Problem der gesamten Erzählung von Kleist:“ – notiert Dirk Grathoff – „wie kann ich meinen Lesern eine Geschichte erzählen, die die beteiligten Gestalten in der Geschichte einander nicht erzählen können und dürfen? Sie dürfen es nicht aus Gründen, die man beim Autor vermutete: aus Taktgründen, und sie können es nicht, weil ihnen die Sprache dazu fehlt“ (ebd., S. 99). Skandalös, d. h. unaussprechlich, ist beispielsweise, dass der Vergewaltiger derart vertraut mit seinem Opfer ist, dass er es beim Vornamen nennt und das, darüber hinaus, bei seinen vermeintlich letzten Worten. Auch die Marquise kennt Namen und Rang des betreffenden Mannes – rätselhaft, dass sie das trotz ihrer Ohnmacht bei der schändlichen Tat in Erfahrung gebracht hat! Im Zusammenhang des in der vorliegenden Textpassage Dargestellten scheint sie diese Bekanntschaft zu verleugnen, bezieht sie doch den vom Grafen genannten Vornamen auf eine „Namensschwester“.
So wird der Leser zu Werturteilen herausgefordert, denn der Erzähler ist mit seinen Werturteilen nicht auf der Höhe des Dargestellten; selbst die in diesem Zusammenhang vom Kommandanten eingeholte behördliche Auskunft des Postamtes über den Tod des Grafen erweist sich schließlich als Falschmeldung.
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