Die modernen Dichter

Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung

Homer erzählte von den verderblichen Listen des Odysseus, mit denen er selbst die Götter vor große Rätsel stellte.

Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der viel umgetrieben wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstörte.

Homer: Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt.

Seit Homer ist das Erzählen sagenhaft, aber auch menschlich geworden. Es ist menschlich, da es sowohl dem Dichter als auch Odysseus gelingt, beispielsweise durch die Berichte des Helden im Kreise der Phäaken, den bedrohlichen Abstand zwischen subjektiver und objektiver Welt zu verringern. Odysseus weiß der Überlegenheit der Götter trotz aller menschlichen Schwäche seine List entgegenzusetzen. Schiller fand, dass Homer „mächtig durch die Kunst der Begrenzung“ sei, der moderne Dichter dagegen „durch die Kunst des Unendlichen“ (FA 8, S. 736). Für den modernen Dichter sei der Begriff der Unendlichkeit gewissermaßen zur Religion geworden. Es gehe ihm um Undarstellbares und Unaussprechliches, schrieb Schiller.


„[U]nd siegen gleich die alten Dichter […] in der Einfalt der Formen und in dem, was sinnlich darstellbar und körperlich ist, so kann der neuere sie wieder im Reichtum des Stoffes, in dem, was undarstellbar und unaussprechlich ist, kurz, in dem, was man in Kunstwerken Geist nennt, hinter sich lassen.“

(Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, ebd.)

Kaum von der Hand zu weisen ist, dass beide Dichtungsarten in Heinrich von Kleists Erzählungen zum Tragen kommen, die naiv-körperliche, indem er dramatisch, nahezu filmisch erzählt, und die sentimentalische, indem er das Undarstellbare und Unaussprechliche zum Thema macht. Von dem problematischen Kleist lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass er versucht, das Gleichgewicht zwischen subjektiver und objektiver Welt in der Schwebe zu halten, wobei die subjektive am Ende doch das Übergewicht erhält.


Arbeitsanregungen:

  • Erzählen Sie einen Moment aus Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O…“ nach, beispielsweise die Untersuchung der Marquise durch den Arzt oder den ersten Heiratsantrag des Grafen. Die erzählte Zeit soll nur wenige Minuten umfassen.
  • Achten Sie bei der Kürzestgeschichte darauf, wie Sie das Verhältnis zwischen objektivem Zeitgeschehen und subjektiver Zeitwahrnehmung gestalten. Variieren Sie die Länge der Erzählzeit, zum Beispiel durch Verschachtelung der Syntax, indem Sie von dem dargestellten Moment so erzählen, dass er wie ein Ereignis von wenigen Sekunden oder mehreren Minuten wahrgenommen werden muss, auch wenn, objektiv betrachtet, die gleiche Zeitspanne dargestellt wird.
  • Versuchen Sie dann das Undarstellbare und Unaussprechliche zeitlich kurzer Einheiten in einer eigenen Erzählung schriftlich festzuhalten. Bestimmen Sie im Voraus Zeit, Ort, Aufbau, Motive und Figuren Ihrer Kürzestgeschichte.


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