Der unzuverlässige Erzähler

Der vermeintliche Tod des Grafen F… Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… Es lohnt sich, mit einem Blick in die Sekundärliteratur zu beginnen, bevor die Lektüre der folgenden Passage Widerspruch hervorruft. Dirk Grathoffs Argumentation in seinem zweiten „Annäherungsversuch an eine komplexe Textstruktur“ (Dirk Grathoff: Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… Drei Annäherungsversuche an eine komplexe Textstruktur. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts Bd. 1, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8413: Stuttgart 1988, S. 97–131) ist auf die zwei sozialen Instanzen abgestellt, denen die Marquise ihren Tribut zollt: die Familie, durch die die soziale Identität der Marquise verbürgt […]

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Die modernen Dichter

Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung Homer erzählte von den verderblichen Listen des Odysseus, mit denen er selbst die Götter vor große Rätsel stellte. Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der viel umgetrieben wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstörte. Homer: Die Odyssee. Deutsch von Wolfgang Schadewaldt. Seit Homer ist das Erzählen sagenhaft, aber auch menschlich geworden. Es ist menschlich, da es sowohl dem Dichter als auch Odysseus gelingt, beispielsweise durch die Berichte des Helden im Kreise der Phäaken, den bedrohlichen Abstand zwischen subjektiver und objektiver Welt zu verringern. Odysseus weiß der Überlegenheit der Götter trotz aller […]

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Die „unmöglichen“ Rechte der Familie

Die kleistsche Erzählung „Die Marquise von O.“ vor dem Hintergrund der dargestellten Kriegshandlungen Der Kommandant In der Perspektive des Kommandanten ist alles mit dem Koalitionskrieg verbunden, jeder Angreifer willens, die Auswüchse der Französischen Revolution auf italienischem Boden zu bekämpfen. Er betrachtet die Zitadelle so lange als französisches Staatsgebiet, bis der Krieg auf sie übergreift. Die Familie, eingeschlossen die verwitwete Marquise mit ihren Kindern, steht außerhalb dieser territorialen Ordnung. Sie ist kein Staatsgebiet oder koloniales Gebiet; sie ist, seit der Geltung des Code Civil, prinzipiell auch nicht mehr okkupierbar. Zwar bleibt die Familie weiterhin der väterlichen Gewalt unterworfen, doch wird […]

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Leere Wünsche?

Kleist und die romantische Sehnsucht „Der leere Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können, ist Sehnsucht.“ So fasst Kant einen Ausdruck, der sich trefflich auf die Zeit der Romantik anwenden ließe. „Sehnsucht“ wäre als ein typisch romantisches Motiv zu nennen. Auch Kleist stand dieser Ausdruck zur Verfügung. Sein Werk lässt sich, im Allgemeinen gesprochen, als Ausdruck einer Sehnsucht nach subjektiver Ordnung oder, wie Rüdiger Safranski es formuliert, als Sehnsucht nach einem imaginären Ich verstehen. Kleist war „mit dem Extremismus seiner Gefühle und dem Absolutismus seines Ichs einer der genialen Romantiker. Aber auch ein […]

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Reisen ist nötig

Heinrich von Kleists Leben als Roadmovie Immer, wenn es ans Reisen ging, war Kleist schon munter. Und er nahm es jedes Mal so genau, wenn es ans Reisen ging, und ließ sich darüber aus in seinen Briefen. Der Leser könnte Kleist als den typisch romantischen Reisenden betrachten, den es grundsätzlich in ferne, unbekannte Regionen drängte, ohne dass die jeweils in die Reise gesetzten allgemeinen Ziele sich widersprächen. Am 22. März 1801 schrieb er an seine geduldige Verlobte: „Liebe Wilhelmine, laß mich reisen. Arbeiten kann ich nicht, das ist nicht möglich, ich weiß nicht zu welchem Zwecke. Ich müßte, wenn […]

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Kleists berühmter Gedankenstrich

Die Marquise von O… und Kleists dramatische Erzählkunst Vorstufen und Überarbeitungen einer Interpretation der Vergewaltigungsszene Der Vordenker der Frühromantik, Heinrich von Kleist, schildert in seiner Novelle „Die Marquise von O…” aus dem Jahr 1808 die außereheliche und unter skandalösen Umständen herbeigeführte Schwangerschaft der fiktiven Marquise von O…, einer innerhalb eines französischen Besatzungsgebietes in Italien lebenden Adeligen, die sich den strengen Konventionen und Normen ihrer Zeit unterwerfen muss. Kleist setzt sich in der Novelle gesellschaftskritisch mit patriarchalischen Familienstrukturen, eingeschränkter Selbstbestimmtheit der Frau und bürgerlicher Doppelmoral auseinander. Absonderliche menschliche Charakterzüge kommen dabei auf nahezu filmische Art und Weise zum Vorschein. Die […]

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Kleists Kippfiguren

In der wissenschaftlichen Kleist-Forschung ist die Kippfigur so etwas wie eine Leitidee. Das Inventar der kleistschen Figuren wird nicht nach guten und bösen Naturen aufgeteilt. Die Aufteilung geht mitten durch das Herz der Figuren. Die Kippfigur ist die Figur, die unerwartet in ihr Gegenteil umschlägt, wie ein bekanntes Beispiel aus dem Kanon optischer Täuschungen zeigt. Die dargestellte Frau ist nicht mit einer älteren Frau, deren große Nase eine Warze ziert, zu verwechseln. In den Augen der Marquise von O. – und damit auch aus der Perspektive des dadurch beeinflussten, „mitfühlenden“ Lesers – stellt sich Graf F. beispielsweise, um die […]

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