Die Dekonstruktion des Helden an der Kriegsfront

Probleme des Erzählers in Arno Geigers Roman „Unter der Drachenwand“ mit Hinblick auf den Romanbeginn

Worin liegt das Problem des Kriegsromans? Wie stellt es sich für den Erzähler dar? Soll er schlicht und ergreifend schildern, wie einer davongekommen ist? Ist es nicht bedeutsamer, mit Blick auf den unkundigen Leser, „wahrheitsgemäß“ zu registrieren, unter welchen Bedingungen ein derartiges Überleben möglich wäre? Der Roman „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger – 2018 erschienen – scheint auf der einen Seite, gerade mit Bezug auf die Hauptfigur, das zweite vor Augen zu führen: die Rekonstruktion eines begrenzten Glücks. Veit Kolbe ist nicht einfach nur davongekommen. Er hat sich in die Büsche geschlagen. Er darf sogar lieben und Liebe erfahren.

Auf der anderen Seite schaut der Betrachter auf die Kriegsmächte und die unzähligen Soldaten, die das Geschäft des Krieges im Namen ihrer Dienstherren vollziehen. Der Krieg vermag dem Einzelnen von seinem Wesen her weniger zu geben als das Leben. Tote Tag um Tag, Bombardierungen, die Monotonisierung des Sterbens. Der Krieg vernichtet unablässig. Er macht es unmöglich, vom Schicksal des Einzelnen in spontaner Selbstgewissheit zu erzählen.

Das Unbehagen am Krieg wird daher aus mehreren Perspektiven geschildert. Diese treten in den Wettbewerb miteinander, um die Realität des Krieges abzubilden. Keine soll, für sich genommen, als positive oder negative Essenz der Welt gelten.

Den Hintergrund bildet der Zweite Weltkrieg, genau genommen die Zeit nach der Wende dieses Krieges. Die verlorene Schlacht von Stalingrad (19. November 1942 – 31. Januar 1943) prägt das Denken, den allzuoft unterbrochenen Funkverkehr der an der Ostfront stationierten Verbände der Deutschen Wehrmacht. Spätestens seit der Sommeroffensive 1944 liegt der Vorteil im Osten auf Seiten der sowjetischen Truppen. Unter diesen Bedingungen wird erzählt. Von einem, den, wie es heißt, „der Krieg auch diesmal nur zur Seite geschleudert“ hat (7). Es handelt sich um den Stabsgefreiten (vgl. 31) Veit Kolbe.

Der Inhalt der ersten beiden Seiten des Romans lässt sich mit einem Satz umreißen: Der Ich-Erzähler, Veit Kolbe, erinnert sich daran, wie es zu seiner Frontverletzung gekommen ist.

Anfangs heißt es: „Im Himmel, ganz oben, konnte ich einige ziehende Wolken erkennen, und da begriff ich, ich hatte überlebt. / Später stellte ich fest, dass ich doppelt sah.“ (7) Vom Tempo der Wolken ist die Rede, nicht von den Nebenwirkungen des Krieges, den Geschützfeuern, dem Rauch über den Einschlägen. Die entscheidende Mitteilung des Anfangs ist, dass jemand überlebt hat – auch wenn ihm das Blut „in leuchtenden Bächen“ (7) herausströmt. Nicht von Existenz beziehungsweise Fort-Existenz, im vollen Sinn des Begriffs, sondern von der blutigen Vollstreckung organischer Systeme ist die Rede. Ein namenloses Ich, am Leben erhalten von einer heftig arbeitenden „Pumpe“ (14) befindet sich in einer natürlichen Umgebung. Alles fließt. Das dahintreibende Bild der Wolken (7, 1), dann des Blutes (vgl. 7, 12–17) wird damit zur Metapher für das Weiterleben.

Mit diesem Romananfang wird Abschied von der Vorstellung genommen, dass die zentrale Figur der Erzählung einen Kern voraussetze. Dieser soll erst an anderen Stellen, unabsehbaren Einwürfen innerhalb der Erzählung fassbar werden, an äußeren Daten wie dem Eigennamen („Ich sagte mir meinen Namen vor, immer wieder, ich dachte, solange ich meinen Namen weiß, bin ich noch bei Verstand: Veit Kolbe … Veit Kolbe … Veit Kolbe …“, 12), dem militärischen Rang (vgl. 31), dem Aufgabenbereich an der Front („Vier Jahre Krieg, Mühsal und Plage, ich hatte meinen LKW, einen Citroën, von Wien bis an die Wolga und von der Wolga zurück an den Dnjepr gebracht“, 15). Das Aussehen wird geschildert: „Als ich mir erstmals von einem Bettnachbarn einen kleinen Spiegel lieh, um mich im Bett rasieren zu können, erschrak ich über mein zerschundenes, verbrauchtes Gesicht. / Etwa dreißig Tage hatte ich mich nicht mehr rasiert, seit Charkow Taganrog Woronesch Schitomir, keine Ahnung, ich sah aus wie ein Unterseebootmann, der von einer Fernfahrt kommt, furchtbar.“ (12)

Der Gedanke an Innerlichkeit, an ein Bewusstsein, das von einem Ich getragen wird, liegt fern, zumindest am Anfang der Erzählung.

Aufgabe:

Konzentriere dich bei der Fortsetzung der Interpretation auf zwei Fragen:

  • Worin liegt das Darstellungsziel?
  • Mit welchen Mitteln versucht der Autor, dieses Ziel zu erreichen?