Probleme der neueren Lyrik

Barocke Dichtung

Wozu ein Gedicht diente, war im Barock kaum der Frage wert. Die Frage nach dem Zweck der Dichtung wird gestellt, wenn der Boden verletzt worden ist, auf dem sich alle Sprache befindet. Im geselligen Leben der barocken Formen, die sich aus heutiger Sicht auf ungeahnte Weise ausdehnten, hatte Dichtung ihren Ort. So wurde die Klage vollzogen, die große, unvergleichliche des Dichters Andreas Gryphius zum Beispiel, die den Titel „Thränen des Vaterlandes (1636)“ trägt.

„WIr sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun/
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.

Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd't/ und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.

Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt/
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen

Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.“

Andreas Gryphius: Thränen des Vaterlandes (1636). In: Gedichte des Barock, hrsg. v. Ulrich Maché und Volker Meid. Reclam UB 9975: Stuttgart 1980, S. 116.

Vom Krieg selbst war beantwortet, wozu das Gedicht diente: zu klagen angesichts der großen Verwüstungen, des „Tobens der Feinde“, bei dem auch die Seele Schaden nimmt. Sogar der Krieg erforderte Kunst, und zwar in einer bestimmten Form, so dass die beklagten Verhältnisse ihren (rhetorischen) Sinn erhielten. Pate hierbei stand einerseits der der christliche Glauben, andererseits die geistige Strömung des Rationalismus, deretwegen Poeten wie Staaten Hoffnung schöpften, dass für den Verstand nichts unerreichbar sei, selbst angesichts der großen Umwälzungen und Zerstörungen, die der lange Krieg mit sich brachte.

Man sprach oder sang insbesondere das Gelegenheitsgedicht, ähnlich wie der Spielmann, der der Brautwerbung wegen von Königshof zu Königshof gezogen war. Nur nicht mehr als fahrender Geselle war der Dichter unterwegs. Weniger königlich war auch das Publikum. Es ging bürgerlicher, geschäftsmäßiger vor sich: Man stellte dergleichen Dichtungen bei Verheiratungen „dutzendweise“ her, wie der junge Goethe neidisch berichtet:

„[…] ich hatte schon von Jugend auf die Gelegenheits-Gedichte, deren damals in jeder Woche mehrere zirkulierten, ja besonders bei ansehnlichen Verheiratungen dutzendweise zum Vorschein kamen, mit einem gewissen Neid betrachtet, weil ich solche Dinge ebenso gut ja noch besser zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen, und besonders, mich gedruckt zu sehen. Ich erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Personalien, mit den Verhältnissen der Familie bekannt; ich ging etwas abseits, machte meinen Entwurf“.

Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hamburger Ausgabe, mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. Bd. IX: Hamburg 1955, 172.

Die Gelegenheit wurde erwogen, nicht die Kunst. Der junge Goethe fühlt sich den „Verhältnissen der Familie“, der Gesellschaft mehr verpflichtet als der eigenen schöpferischen Energie. Doch dieses Verständnis von Dichtung sollte bei Goethe sich radikal ändern. Sprache sei ohne Bindung an das eigene Herz nicht vorstellbar, legen seine „Sesenheimer Lieder“ nahe. Mit Herder teilt Goethe in jener Epoche seines Schaffens (Empfindsamkeit und Sturm und Drang) die Ansicht, dass Sprache wildbewegt, strömend zu sein hat, gleichsam dem Herzschlag folgend.

Neben der Gelegenheitsdichtung: das literarische Gedicht

Für das Auge bestimmt ist das Gedicht späterer Epochen, für den Blick des Einsamen. Manche erinnern allerdings daran, dass es vom Ohr aufzunehmen und chorisch ist.

CONRAD FERDINAND MEYER

CHOR DER TOTEN

Wir Toten, wir Toten sind größere Heere
Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere!
Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten,
Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten,
Und was wir vollendet und was wir begonnen,
Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen,
Und all unser Lieben und Hassen und Hadern,
Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern,
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden,
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden,
Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte,
Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele
Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!

(1880)

In dem vorliegenden Fall scheint Meyer das Gedicht, das im Übrigen von der Dichtung selbst handelt, dadurch ganz machen zu wollen, dass er die Toten zu Wort kommen lässt. In dem Gedicht „Chor der Toten“, dass einige Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) entstanden ist – in diesem Krieg war der Schweizer Dichter als Übersetzer tätig –, messen sich die Toten mit den Lebenden. Es ist ein Gedicht über den Ablauf der Zeit, und damit handelt der Text in einem besonderen Sinn von dem unwiderruflichen Unterwegs-Sein. Das ist mehr als Gelegenheitsdichtung. Das Gedicht ist von der Kunst bestimmt, Leben und Tod als Einheit zu denken: eine höhere Wahrheit, als an einen bestimmten Ort, Vortrag, Hörerkreis zu denken.

Probleme der Lyrik nach Auschwitz

Wie ist es nun, wenn diese höhere Wahrheit, der Wettbewerb der Toten und Lebenden um „die menschlichen Ziele“ (V. 13) nicht nur empfindlich gestört, sondern entschieden zugrunde gerichtet wird in nationalsozialistischer Zeit? In die Diskussion über die Frage, ob der Holocaust von den Nachgeborenen „authentisch“ zum Ausdruck gebracht werden könne, haben sich viele mit guter Absicht gemischt. Das verbiete sich von selbst, hieß es auf Seiten derer, die die Barbarei am eigenen Leib erfahren hatten, dass „der hässliche Deutsche“ authentisch schreiben könne. Der Weg der deutschen Literatur schien – und gerade hinsichtlich der Lyrik mit ihrer Gebärdensprache der Gefühle – ins Ausweglose zu führen.

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat das einmal in die Worte gefasst, dass Lyrik nach Auschwitz, verkürzt gesprochen, nicht mehr möglich sei:

„Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und umso paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.“

(Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, 1951. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main, 1997. Band 10.1)

Die jüdischen Dichter Paul Celan und Nelly Sachs haben gezeigt, dass die eigentümliche Kraft des Gedichts lebendig erhalten werden kann.

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Angesichts dieses Spruchs über den Konzentrationslagern lässt sich leicht eine Begründung für Adornos Diktum finden: Nach Auschwitz sei Lyrik nicht mehr möglich.

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