Aus der Fülle des Herzens schreiben

Der radikale Wandel des Sprachverständnisses in Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ Goethe, der Ordnung liebte, hat die Konsequenzen gefürchtet, die sich aus dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ ergaben. Die Kritik mancher Rezensenten entzog der ersten Fassung (1774) quasi den Boden. Der Dichter wurde mit einer Reihe von Verbotsanträgen konfrontiert; Stimmen wurden laut, die der Ironie des Textes nicht gewachsen schienen oder sich aus Sorge um den Nachahmungseffekt über sie hinwegsetzten – wie die folgende: „Es wird hier ein Buch verkauft, welches den Titel führt Leiden des jungen Werthers. Diese Schrift ist eine Empfehlung des Selbst […]

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Willkommen und Abschied

Sesenheimer Pfarrhaus. Goethe erinnert sich später, in dieser Zeit mit Friederike Brion wie am „Mittelpunkt der Erde“ gelebt zu haben. Wilder Reiter – Erlebnislyrik wie „Willkommen und Abschied“ Das Gedicht „Willkommen und Abschied“ von Johann Wolfgang von Goethe, in der ersten Fassung im Jahr 1771 veröffentlicht, zählt zu den Sesenheimer Liedern. Die Sesenheimer Lieder stellen insofern eine Wende innerhalb der deutschen Lyrik dar, als der Stoff der Lyrik in die Seele des Sprechers verlagert worden ist. Der Sprecher sieht den Stoff nun so an, als ob er nur in seinem Innern vorhanden wäre. Goethe versucht in dieser für die […]

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Regeln der Interpretation

Beobachtungen des Lehrers anlässlich einer Deutschklausur 1. Argumenta a textu sunt praeferenda! Oder: Marie, die Prostituierte Wie oft wird die Analyse, der Vergleich, die Interpretation usw. auf Informationen bezogen, die außerhalb des Textes vorkommen! Marie sei eine Prostituierte, heißt es zum Beispiel in der Klausur eines Schülers über Büchners „Woyzeck“, also könne sie den Tambourmajor nicht aufrichtig lieben. Ihre „Liebe“ sei rein sexueller Natur. Marie ist eine Prostituierte, das wird tatsächlich in einer Anmerkung angegeben. Es wird in der Einleitung des Klausurtextes, zweier Szenen aus dem Drama, kurz erwähnt. Marie, die Prostituierte – das ist allerdings ein Klischee, mit […]

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Liebe ist alles?

Tagebuch einer Kindsmörderin Gretchen sei von Goethe kaum umgestaltet worden, heißt es. Sie ist ein Mädchen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, die Mutter Witwe, sie lässt sich verführen, tötet das Kind – diese aus dem Leben gegriffene Gestalt hat Goethe in den Jahren des Sturm und Drang derart aufgewühlt, dass er sie unangetastet gelassen hat. Die flammende Gesellschaftskritik des Sturm und Drang findet sich demnach stärker im „Urfaust“ als im späteren „Faust“ wieder. Gretchen dürfte vorgewarnt gewesen sein. Stets werden Frauen von Männern vernichtet. Beispiele dafür gibt es genug, dass die Mutter auf sie Einfluss nimmt, immer bemüht, die Haltung, den […]

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„Faust“ in Thesen

Erste These: Der „Faust“ liegt nicht als abgeschlossenes Werk vor. Der Dichter verweist darauf bereits in der „Zueignung“, dem ersten „Portal“ der Dichtung. Er kann die Geister, die er als jugendlicher Dichter rief, nicht beschwören („Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten“, V. 31); der alte Dichter erkennt den vergeblichen „Wahn“ in dem Versuch, Figuren von der Größe Fausts festzuhalten (vgl. V. 3–4). Mit jedem weiteren „Portal“ – insgesamt sind es drei: „Zueignung“, „Vorspiel auf dem Theater“, „Prolog im Himmel“ – wagt sich der Dichter von Neuem an die Frage, worin denn die Wahrheit des Werkes besteht, das […]

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Ein unnatürliches Brüllen

Georg Heym: Die Irren (1910) Der Titan Prometheus soll für seinen Mut, den Göttern zu widersprechen, an einen dunklen Felsen im Kaukasus geschmiedet worden sein. So war er gewissermaßen unsichtbar geworden. Der titanische Feuerzünder war verschwunden und die Wahrheit über die Götter mit ihm. Es gibt weitere Söhne und Töchter aus der Verbindung von Mutter Erde, Gaia, und Vater Himmel, Uranos, die die Mutter zum Widerstand gegen die Götter angestachelt hat. Hyperion und Theia, die Lichtgestalten, Okeanos, der Weltenstrom, Themis, das Naturgesetz, und Mnemosyne, das Gedächtnis, Atlas, der das Himmelsgewölbe stützt – diese Liste der Titanen ließe sich fortführen […]

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Susanna Margaretha Brandt

Zum Einhorn Vor dem Fenster waren waagerechte Brettchen angebracht, die Blumentöpfchen darauf konnten Wasser gebrauchen. Vorsorglich bückte ich mich, um leicht in das Innere der Küche zu kommen. Vor mir auf dem Tisch lag ein Kreuz, hinter dem ein farbloses Sträußchen klemmte, über der Eckbank hing ein blaues Tuch, das sie gewöhnlich um die Schultern trug. Ich glaubte, Susanna zu hören. Ich kannte sie, es war Susanna Margaretha Brandt, genannt Susann, Magd in der Herberge „Zum Einhorn“. Wir waren dann in allen Zimmern, stiegen sogar die Stiege hinauf – in allen Zimmern, abgesehen von der Waschküche. Das Kind sei […]

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