Nathanaels „Geisterseherei“

Melancholie und Leben Die Unmöglichkeit, sich vorzustellen, dass der kränkliche Nathanael eine gesunde Beziehung mit Clara führt, lässt die Frage entstehen, wie es um die Verfassung jenes Charakters bestellt ist, dass er nicht umhin kann, zu scheitern. Die Antwort ist häufig auf die Formel gebracht worden, in Nathanael begegne dem Leser eine Figur, die an den Folgen eines schrecklichen Traumas leide. Das Nachdenken über das eigene Geschick hat viele Gesichter: Der Melancholiker betrachtet die erlebte Zeit als die verlorene Zeit. So erlebt Nathanael den Vater beim Erscheinen des Sandmanns: in melancholischer Starre versunken. Doch nicht nur über den Vater, […]

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Abendlied

Paul Gerhardt: Abendlied (1647)                                                                  Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt und Felder, Es schläft die ganze Welt; Ihr aber, meine Sinnen, Auf, auf, ihr sollt beginnen, Was eurem Schöpfer wohlgefällt.   Wo bist du, Sonne, blieben? Die Nacht hat dich vertrieben, Die Nacht, des Tages Feind; Fahr hin! Ein andre Sonne, Mein Jesus, meine Wonne, Gar hell in meinem Herzen scheint.   Der Tag ist nun vergangen, Die güldnen Sterne prangen Am blauen Himmelssaal; Also werd ich auch stehen, Wenn mich wird heißen gehen Mein Gott aus diesem Jammertal.   Der Leib eilt nun zur Ruhe, Legt […]

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Pilgerlied

Der Himmel als Landkarte des Pilgers Als unwidersprochen im Hinblick auf den Barock gilt die Behauptung, dass die Kirche in dieser Epoche wieder zu Kräften gekommen sei. Die Weite des Sternenhimmels sei nach dem Ende der konfessionellen Kriege wieder über das Bewusstsein der Gläubigen gezogen. Darum finde seine Nachbildung sich so oft auf den Decken barocker Kirchen, intensiv leuchtend. Auch das vorliegende Gedicht, Sigmund von Birkens „Pilgerlied“ aus dem Jahr 1652, erscheint als logische Konsequenz dieser Ausweitung des Himmels. Meine These ist, dass dieses Gedicht nicht ohne die Problematik des wieder zu Kräften gekommenen, mystischen Sternenhimmels begriffen werden kann. […]

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Die Sackgasse der Metropole

Paul Boldts expressionistisches Gedicht „Auf der Terrasse des Café Josty“ Der Wert einer Erinnerung: der lebenssteigernde Wert einer hinderlichen Erinnerung. Versteht sich der Expressionismus als hinderlich, hat auch dieses schlichte Gedicht Paul Boldts mit dem Titel „Auf der Terrasse des Café Josty“ durchaus Wert. Denn der Text weicht in archaische Erinnerungen aus. Das Sonett ist auf vorgeschichtliche Phänomene, auf eiszeitliche Gletscher und Lawinen bezogen, obwohl es vom Umbruch zur Moderne handelt. Anders gesagt: der Potsdamer Platz und der fieberhafte Verkehr auf dem Platz werden dargestellt, die Geschwindigkeitsphantasien der Moderne. Die Geschwindigkeit der vor dem Auge des Betrachters sich bewegenden […]

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Regeln der Interpretation

Beobachtungen des Lehrers anlässlich einer Deutschklausur 1. Argumenta a textu sunt praeferenda! Oder: Marie, die Prostituierte Wie oft wird die Analyse, der Vergleich, die Interpretation usw. auf Informationen bezogen, die außerhalb des Textes vorkommen! Marie sei eine Prostituierte, heißt es zum Beispiel in der Klausur eines Schülers über Büchners „Woyzeck“, also könne sie den Tambourmajor nicht aufrichtig lieben. Ihre „Liebe“ sei rein sexueller Natur. Marie ist eine Prostituierte, das wird tatsächlich in einer Anmerkung angegeben. Es wird in der Einleitung des Klausurtextes, zweier Szenen aus dem Drama, kurz erwähnt. Marie, die Prostituierte – das ist allerdings ein Klischee, mit […]

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