Wasserleichen

Zur Darstellung der Wasserleiche in der expressionistischen Literatur Es gab einen expressionistischen Affekt. Aus ihm formte sich der Kampf gegen Wissenschaftsdenken, Fortschrittsoptimismus, Bürokratie und wilhelminischen Geist. Nietzsche hatte es vorausgesehen: Die Deutschen brauchten die Konfrontation mit der eigenen Schwäche. Diese Erfahrung wirkte in ihrer Kraft tiefer und mächtiger als die Erinnerung an ein Subjekt, das mit seinen Idealen ins Dasein tritt und mit ihnen wieder daraus verschwindet. Im Expressionismus bekam die „Psychopathographik“ der Deutschen eine Stimme (vgl. Walter Müller-Seidel: Wissenschaftskritik und literarische Moderne. In: Die Modernität des Expressionismus, hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark. J. B. Metzler Verlag: […]

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Die Sackgasse der Metropole

Paul Boldts expressionistisches Gedicht „Auf der Terrasse des Café Josty“ Der Wert einer Erinnerung: der lebenssteigernde Wert einer hinderlichen Erinnerung. Versteht sich der Expressionismus als hinderlich, hat auch dieses schlichte Gedicht Paul Boldts mit dem Titel „Auf der Terrasse des Café Josty“ durchaus Wert. Denn der Text weicht in archaische Erinnerungen aus. Das Sonett ist auf vorgeschichtliche Phänomene, auf eiszeitliche Gletscher und Lawinen bezogen, obwohl es vom Umbruch zur Moderne handelt. Anders gesagt: der Potsdamer Platz und der fieberhafte Verkehr auf dem Platz werden dargestellt, die Geschwindigkeitsphantasien der Moderne. Die Geschwindigkeit der vor dem Auge des Betrachters sich bewegenden […]

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Ein unnatürliches Brüllen

Georg Heym: Die Irren (1910) Der Titan Prometheus soll für seinen Mut, den Göttern zu widersprechen, an einen dunklen Felsen im Kaukasus geschmiedet worden sein. So war er gewissermaßen unsichtbar geworden. Der titanische Feuerzünder war verschwunden und die Wahrheit über die Götter mit ihm. Es gibt weitere Söhne und Töchter aus der Verbindung von Mutter Erde, Gaia, und Vater Himmel, Uranos, die die Mutter zum Widerstand gegen die Götter angestachelt hat. Hyperion und Theia, die Lichtgestalten, Okeanos, der Weltenstrom, Themis, das Naturgesetz, und Mnemosyne, das Gedächtnis, Atlas, der das Himmelsgewölbe stützt – diese Liste der Titanen ließe sich fortführen […]

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Kafkas Kippfiguren

Kafkas Figurengestaltung im Roman „Der Prozess“ Die Erzählperspektive bildet die conditio sine qua non. Nicht das Wissen über die Inhalte von Kafkas Roman „Der Prozess“, sondern das Wissen über die Verzerrung der Inhalte, die durch diese Perspektive bedingt ist, verschafft einen Zugang zum Gesetz und damit zur Schuld des Protagonisten. Das Tor zum Gesetz wird nicht durch festes Mauerwerk begrenzt, sondern durch den von der jeweiligen Perspektive bestimmten psychischen Raum. Wenn das Tor dem „Mann vom Lande“ verschlossen erscheint, durch übermächtige Wächter ausgefüllt, dann wird keiner mehr zugelassen. Die Wächter, deren es viele in diesem Roman gibt, haben sich […]

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K. und die Frauen

K. und die Frauen: Fräulein Bürstner Josef K. ist von der Übermacht seiner scheinbar „sehr gut[en]“ Kenntnisse über Fräulein Bürstner, derer er sich im Gespräch mit seiner Vermieterin Frau Grubach rühmt (Franz Kafka: Der Prozess. Roman. Hamburger Lesehefte Verlag: Husum 2015, S. 20, Z. 34), wie vom Schlag getroffen. Über die alte Angst infolge der verwirrenden Verhaftung am Morgen seines 30. Geburtstags hat sich eine neue Macht gelagert: Frau Grubach wenigstens, so scheint es, gilt er trotz aller Umstände weiterhin als Autorität unter den Mietern. Ihr peinliches Gerede über Fräulein Bürstner aber kann er nicht dulden („Ich will Fräulein […]

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Der Kaiser ist tot!

Franz Kafka: Eine kaiserliche Botschaft   Der Raum selbst – als Bedingung der Möglichkeit der sinnlichen Erscheinung – mag wirkungslos sein. Er ist dennoch zu durchmessen. In Kafkas Erzählung „Eine kaiserliche Botschaft“ – als selbstständiges Prosastück aus der Erzählung „Beim Bau der chinesischen Mauer“ herausgelöst und im Buch „Ein Landarzt“ veröffentlicht – gibt es bestimmte Räume, die den Kaiser vom Empfänger der Botschaft trennen. Es gibt die hinderliche Menge, es gibt Treppen, es gibt unzählige Höfe. Es ist das „überlieferte“ Wort, das der Bote zu überbringen hat. Der Kaiser stirbt, als der Bote sich auf den Weg macht. Welcher […]

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Umkehr der Richtung

Das Verwandlungsmotiv in Kafkas Novelle „Die Verwandlung“ Wenn es heißt, der Mensch sei an der Verwandlung erst Mensch geworden, so ist im Falle Gregor Samsas das Gegenteil richtig. Es gehört zur Gabe des Menschen, sich verwandeln zu können, es gehört zu seiner spielerischen Veranlagung. Wie aufregend, sich alle möglichen Charaktere einverleiben zu können! Wie spannend, mehr sein zu können, als man ist! Die Verwandlung Gregor Samsas hat demgegenüber eine besondere Qualität. Diese besteht in der Umkehrung des Motivs. Darauf beruht die Ironie der Darstellung. Alle Gedanken der Hauptfigur sind erfüllt von dem Wunsch, nicht mehr, sondern, im Gegenteil, weniger […]

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