Georg Heym: Die Irren (1910)
Der Titan Prometheus soll für seinen Mut, den Göttern zu widersprechen, an einen dunklen Felsen im Kaukasus geschmiedet worden sein. So war er gewissermaßen unsichtbar geworden. Der titanische Feuerzünder war verschwunden und die Wahrheit über die Götter mit ihm. Es gibt weitere Söhne und Töchter aus der Verbindung von Mutter Erde, Gaia, und Vater Himmel, Uranos, die die Mutter zum Widerstand gegen die Götter angestachelt hat. Hyperion und Theia, die Lichtgestalten, Okeanos, der Weltenstrom, Themis, das Naturgesetz, und Mnemosyne, das Gedächtnis, Atlas, der das Himmelsgewölbe stützt – diese Liste der Titanen ließe sich fortführen bis in die Gegenwart: Dulder, die zum Widerstand bereit sind. Aus diesem zukunftsweisenden Geist heraus war Goethes Gedicht „Prometheus“ entstanden, gegen geflissentliche Aufklärer. Ein viel beachtetes Zeugnis des Sturm und Drang.
Im folgenden expressionistischen Gedicht ist meines Erachtens ebenfalls der Geist des Widerstandes und der Rebellion vernehmbar. Nur tritt kein Genie, kein Individuum auf, sondern die Masse der „Irren“.
„Die Irren“ aus dem Jahr 1910 ist ein lautes Gedicht. Die grelle „Psychopathographik“ ist das vorherrschende Thema (vgl. Walter Müller-Seidel: Wissenschaftskritik und literarische Moderne. In: Die Modernität des Expressionismus, hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark. J. B. Metzler Verlag: Stuttgart 1994, 30). Niemand kann sich hier ruhig-reflektierend niederlassen, niemand kann leugnen, dass der Boden der in diesem Gedicht entworfenen Welt einzustürzen droht. Ein Kranker tritt auf und schmettert seinen Arzt mit Titanengewalt zu Boden und zerbricht ihm dabei den Schädel. Ein unversöhnliches Zeugnis des Widerstandes. Ein verstörender Text aus der Feder von Georg Heym.
Die strophische Gestaltung der Verse entspricht der italienischen Grundform des Sonetts mit umarmenden Reimen (abba, bccb) in den Quartetten. In den Terzetten finden sich in Heyms Gedicht weitere Reimsilben, die nach einem dreireimigen Schema aufgebaut sind: ded, eed. Der Vers ist fünfhebig und entspricht insofern dem fünfhebigen Jambus des Dramas (Blankvers), welcher allerdings ohne Reim auskommt. Der fünfhebige Jambus erlaubt verschiedene Abstände zwischen den syntaktischen Gruppen, er ist nicht symmetrisch gebaut wie der Alexandriner, mit der regelmäßigen Zäsur in der Mitte.
Form und Inhalt widersprechen einander.
- In der ersten Strophe ist die Rede von einer Art Käfig. Die als „[d]ie Irren“ bezeichneten Kranken halten sich an den Wänden und Gittern einer Irrenanstalt auf.
- In der zweiten Strophe wechselt das Bild. Die „Irren“ veranstalten einen Ball, der durch einen wahnsinnigen Schrei aufgelöst wird.
- Der Wahnsinn hat Folgen. In der dritten Strophe geht es darum, dass ein Arzt von einem Kranken gepackt und erschlagen wird.
- Amüsiert schauen die anderen Insassen der Irrenanstalt zu, bis sie durch die Peitsche eines Aufsehers davongejagt werden.
Der Irre gibt sich durch sein unnatürliches Brüllen zu erkennen. Er schreit wie ein urzeitliches Monster – was durch die Personifikation des Wahnsinns unterstützt wird („Plötzlich schreit / Der Wahnsinn auf“, V. 6–7). Die Unnatürlichkeit des Lärms hat etwas Gottloses an sich, bestätigt aber die Autorität der Götter nicht, sondern widerlegt sie.
Arbeitsanregung:
- Wodurch geben sich die Irren zu erkennen?
- Stelle deine Ergebnisse anschaulich dar, in einem Steckbrief z. B.!
Die Irren
Juni 1910
Der Mond tritt aus der gelben Wolkenwand.
Die Irren hängen an den Gitterstäben,
Wie große Spinnen, die an Mauern kleben.
Entlang den Gartenzaun fährt ihre Hand.
In offnen Sälen sieht man Tänzer schweben.
Der Ball der Irren ist es. Plötzlich schreit
Der Wahnsinn auf. Das Brüllen pflanzt sich weit,
Daß alle Mauern von dem Lärme beben.
Mit dem er eben über Hume gesprochen,
Den Arzt ergreift ein Irrer mit Gewalt.
Er liegt im Blut. Sein Schädel ist zerbrochen.
Der Haufe Irrer schaut vergnügt. Doch bald
Enthuschen sie, da fern die Peitsche knallt,
Den Mäusen gleich, die in die Erde krochen.
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