Paul Gerhardt: Abendlied (1647)
Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
Es schläft die ganze Welt;
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf, ihr sollt beginnen,
Was eurem Schöpfer wohlgefällt.
Wo bist du, Sonne, blieben?
Die Nacht hat dich vertrieben,
Die Nacht, des Tages Feind;
Fahr hin! Ein andre Sonne,
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Herzen scheint.
Der Tag ist nun vergangen,
Die güldnen Sterne prangen
Am blauen Himmelssaal;
Also werd ich auch stehen,
Wenn mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammertal.
Der Leib eilt nun zur Ruhe,
Legt ab das Kleid und Schuhe,
Das Bild der Sterblichkeit;
Die zieh ich aus. Dagegen
Wird Christus mir anlegen
Den Rock der Ehr und Herrlichkeit.
Die Verlassenheit der Welt vom Leben zeigt sich am Abend. Fehlt die Sonne, fehlt auch der transzendente Bezug der Dinge; ohne Licht verliert die Schöpfung ihren Sinn. Dieser Bezuglosigkeit entsprechen verschiedene Typen der Angst: Die barocke Angst äußert sich in der Furcht vor der Dunkelheit: Alles im Leben ist verkehrt, wenn es keine Sonne mehr kennt. Paul Gerhardts „Abendlied“, im vorletzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges im von dem Berliner Kantor und Komponisten Johann Crüger herausgegebenen Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“ erschienen, zeigt, dass die äußere Sonne durch eine innere Sonne ersetzt werden kann. Wer in Jesus eine neue Sonne gefunden hat, kann an der Wirklichkeit trotz seiner Vergänglichkeit nicht scheitern. Die „güldnen Sterne“ am Himmel lassen das lyrische Ich auf die notwendige Existenz Gottes schließen. Die romantische Angst dagegen entspränge der Erkenntnis, dass das erlösende Wort noch nicht gesprochen ist. Der Kampf zwischen Licht und Dunkel wäre noch nicht entschieden.
Das Gedicht hat die für ein Lied passende Form: Alle Strophen sind gleich aufgebaut, bestehen aus Schweifreimen (a a b c c b) und sind wegen der regelmäßigen Versifikation gut sangbar. Jede der vorliegenden Strophen enthält sechs Verse, fünf Dreiheber und einen Vierheber; insgesamt sind in der Fassung der Klausuraufgabe vier von neun Strophen abgedruckt. Jedem Vers liegt ein dreihebiger Jambus zugrunde, während der letzte Vers jeder Strophe weiter ausgreift und damit einen Schlusspunkt setzt. Die mehrheitlich weiblichen Kadenzen werden durch männliche Kadenzen in den durch den Schweifreim verbundenen Versen abgelöst (w w m w w m).
Inhaltlich geht es um ein Tagzeitengedicht, genau gesprochen um den Wechsel zwischen Tag und Nacht. Die erste Strophe handelt vom Abend: Die Welt – das lyrische Ich ausgenommen – ruht in der Stille der abendlichen Stimmung. Das lyrische Ich dagegen ist damit beschäftigt, zu tun, was Gott gefällt. Die zweite Strophe stellt ein erdachtes Gespräch zwischen dem lyrischen Ich, der untergegangenen Sonne und der anbrechenden Nacht dar. Das lyrische Ich macht sich darin klar, dass Jesu Glanz in seinem Herzen scheint. In der dritten Strophe wird das Bild erweitert: Der Sternenhimmel inspiriert und ermutigt den Sprecher. Er kommt zu der Erkenntnis, dass er eine Zukunft an Gottes Himmelsgewölbe hat. Die letzte Strophe handelt von dem Ablegen der Kleidung zur Nacht. Das lyrische Ich begibt sich zur Ruhe.
Dieses Gedicht ist bestimmt von einem festen, auf der Kenntnis der Bibel gegründeten Glauben. Unter der Führung Gottes fühlt sich das lyrische Ich in Gerhardts Liedern stark und sicher, gestärkt durch die Speise des göttlichen Wortes. „Dein Wort sei meine Speise, bis ich gen Himmel reise“ – heißt es zum Beispiel in einem anderen Gedicht, im Lied „Wach auf, mein Herz, und singe“, das ebenfalls im Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“ erschienen ist. So fest ist dieser Glaube, dass das gläubige Ich im Vertrauen auf Gott auch übermächtigen Feinden entgegentritt. „Fahr hin!“ (V. 10), heißt es darum – in einer wirkungsvollen Apostrophe, an die Nacht, „des Tages Feind“ (V. 9), gerichtet –, als spräche das lyrische Ich mit dem Teufel selbst (vgl. Mt 4,10; Mk 8,33: „Weg mit dir, Satan“). So bleibt das Gleichgewicht zwischen Welt und Himmel nicht mehr erhalten, die Beziehung zwischen den Motiven der Weltreise und der Himmelsreise wirkt eigentümlich verschoben. Die Überlegenheit der Himmelswelt wird in jeder Strophe spürbar: Der höchste Tag – davon zeigt sich das lyrische Ich überzeugt – besiegt die vergängliche Dunkelheit. Die Weltreise ist Teil einer vorgestellten Himmelsreise. Das Bild der Vergänglichkeit wird in der ersten Strophe entfaltet, in der dritten Strophe durch die Hinzunahme des Sternenhimmels erweitert und kontrastiert: Die diesseitige und die jenseitige Welt treffen aufeinander. Der Blick in den Sternenhimmel bestärkt das lyrische Ich in seiner Überzeugung, dass Jesu göttliche Macht über die Dunkelheit erhaben ist.
Gerhardts Lied spiegelt nicht nur die eigene dichterische Entwicklung, sondern ist Ausdruck einer wieder zu Kräften gekommenen allgemeinen Religiosität. Dabei verwendet Gerhardt die überkommenen Motive: Vanitas und Memento mori bekommen in diesem Gedicht ebenso viel Gewicht wie die Antithetik von Licht und Dunkel.
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