Pilgerlied

Der Himmel als Landkarte des Pilgers

Als unwidersprochen im Hinblick auf den Barock gilt die Behauptung, dass die Kirche in dieser Epoche wieder zu Kräften gekommen sei. Die Weite des Sternenhimmels sei nach dem Ende der konfessionellen Kriege wieder über das Bewusstsein der Gläubigen gezogen. Darum finde seine Nachbildung sich so oft auf den Decken barocker Kirchen, intensiv leuchtend. Auch das vorliegende Gedicht, Sigmund von Birkens „Pilgerlied“ aus dem Jahr 1652, erscheint als logische Konsequenz dieser Ausweitung des Himmels. Meine These ist, dass dieses Gedicht nicht ohne die Problematik des wieder zu Kräften gekommenen, mystischen Sternenhimmels begriffen werden kann. Es gibt wieder Hoffnung, sagt das Gedicht, Gott selber weist dem Pilger den Weg zu den fernen Sternen.

Wanderung gen Himmel: Pilgerlied

   Ziehet hin! spricht zu den Seelen,
Der dem Adam Odem gab.
Geht, ihr Kinder, in die Höhlen,
Die ich euch gebauet habʼ.
5 Wandert hin! Kommt wieder her!
Sucht durch Elend Sternenehrʼ!
 
Unser Gasthaus ist die Erde,
Sie ist unsre Heimat nicht.
Unser Wallen voll Beschwerde
10 Nach dem Himmel ist gerichtʼ.
Für uns ist kein Bleiben hier,
Jene Wohnstatt suchen wir.
 
Uns schützt wider Sonnʼ und Regen
Gottes Hand, der Pilgerhut,
15 Und der Stab auf unsern Wegen
Ist sein Wort, so Hülfe thut.
Der macht unsern Tritt gewiss
In dem Thal der Finsternis.
 
Sorgen, Sünden, die uns drücken,
20 Unsre Wanderbündel sind,
Bis das Reiseziel den Rücken
Von der schweren Last entbindʼ.
Wann sich endet unser Lauf,
Schlafen wir dann sanft darauf.

Sigmund von Birken: Pilgerlied (1652)

Das barocke Gedicht „Pilgerlied“, geschrieben von Sigmund von Birken und veröffentlicht 1652, behandelt sinnbildlich das Pilgern der Gläubigen auf Erden und erklärt daran das irdische Leben als einen Teil des Ganzen, als einen Teil des großen Schöpfungsplans.

Interpretation von Felizia Vornhusen, Mariengymnasium Warendorf

  1. Die erste Strophe enthält eine Aufforderung an die Gläubigen, zu pilgern.
  2. In der zweiten Strophe wird die Endlichkeit des menschlichen Lebens auf Erden deutlich gemacht. Das Ziel der Reise des Lebens ist das Ende im Himmel.
  3. Die dritte Strophe erklärt, dass Gott über das Leben der Menschen auf Erden wacht und sie dort beschützt.
  4. In der vierten Strophe heißt es, dass das Ende des menschlichen Lebens eine Erlösung von all den irdischen Lasten darstellt. Damit sei das Ziel der Reise erreicht, wenn der Mensch die Erde verlässt.

Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit je sechs Versen. In den einzelnen Sextetten liegen jeweils ein Kreuzreim und ein Paarreim nach dem Schema ababcc vor. Klare Einteilungen und Strukturen sind im Barock vorherrschend und bilden somit einen Epochenbezug. Der erste und der dritte Vers jeder Strophe weisen jeweils eine weibliche Kadenz auf, während die geraden Verse und die Verse fünf und sechs stets mit einer männlichen Kadenz enden. In dem Gedicht ist ein durchgängig regelmäßiger vierhebiger Trochäus zu finden.

Die Regelmäßigkeit der Form unterstützt das Wandermotiv. Der vierhebige Trochäus bildet eine klassische Liedform. Das Gedicht, was nicht ohne Grund als „Pilgerlied“ betitelt ist, kann aufgrund seiner Regelmäßigkeit gesungen werden. Das Singen des Liedes, während einer Wanderung beispielsweise, führt so zu einer einheitlichen, gleichmäßigen Fortbewegung. Der Takt des Liedes gewährt einen gleichmäßigen Gang. Aber nicht nur der Gang ist sicher und gleichmäßig, auch das beschriebene irdische Leben zeigt Parallelen zu diesen Motiven auf, wird doch die Sicherheit des Menschen, seine klare Ausrichtung auf das Ziel der Reise vermittelt. Der Mensch, heißt es, werde durch die behütende Hand von Gott geschützt. Das Leben sei kein Irrgarten, für alle Gläubigen sei es von einer Regel bestimmt, einem bestimmten Schöpfungsplan. Durchgängig ist die Rede von einem klaren Weg und einem klaren Ziel.

Besonders auffällig ist die emblematische Bildsprache, die typisch für den Barock ist. So ist in dem schon im Titel erwähnten „Pilger“ als Pars pro Toto die gesamte Christenheit gemeint, und die Wanderung des Einzelnen versinnbildlicht die große Wanderung menschlichen Lebens, das allgemeine Unterwegssein. „Das Reiseziel“ (V. 21) wird am Lebensende erreicht, wenn der Mensch gemäß der christlichen Hoffnung aufersteht und nun nicht mehr sein Päckchen beziehungsweise sein „Wanderbündel“ (V. 20) zu tragen hat, welches die „Sorgen [und] Sünden, die uns drücken“ (V. 19) bilden.

Personalpronomen wie „[u]ns“ (V. 13) verraten die Perspektive des Sprechers. Es handelt sich um ein verallgemeinerndes, ermahnendes – paränetisches – „Wir“. Dies verbindet die Gemeinschaft der Christen, an welche das Gedicht gerichtet ist. Sie sollen sich gemeinsam, lautet die Mahnung, auf den Weg des Lebens machen, wie Pilger es tun, und am Ende werden sie gemeinsam im Himmel versammelt sein.

Das Gedicht ist von biblischen Anspielungen geprägt – wie beispielsweise mittels der Periphrase „Der dem Adam Odem gab“ (V. 2) auf den Schöpfungsbericht verwiesen wird –, welche aufzeigen, dass sich das Lied an die Gläubigen wendet. Adam vertritt, wieder als Pars pro Toto, die gesamte Menschheit, welche von Gott geschaffen wurde. Das Lied knüpft an diese Idee an und erklärt in der Form des Lehr- und Mahngedichtes nach und nach den ganzen Schöpfungsplan. So wird die Erde mithilfe einer Metonymie als „Gasthaus“ (V. 7) bezeichnet. Die Menschen sind nur für eine gewisse Zeit auf ihr zu Gast, bevor sie ihr eigentliches Ziel, ihre „Wohnstatt“ (V. 12) nach dem Tod im Jenseits finden. Hier spiegelt sich das für den Barock so typische Vanitas-Motiv wider. Vergänglichkeit spielt in diesem Gedicht insofern eine bedeutende Rolle, als immer wieder angeführt wird, dass das Ziel der Reise das Ende des Lebens ist; so wird indirekt auf die Vergänglichkeit angespielt.

Es fällt auf, dass die strophenprägenden, für die Epoche des Barock so typischen Motive eine Zuspitzung erfahren. Ist in der Eingangsstrophe noch viel von „Carpe Diem“-Aspekten zu finden, indem an die Menschen appelliert wird, während ihres Lebens auf Erden zu wandern und zu pilgern, so geht dieses Motiv, wie bereits beschrieben, im zweiten Sextett zu dem Motiv der Vergänglichkeit über. Das Gedicht endet schließlich mit der Fokussierung auf das „Memento Mori“-Motiv. In der letzten Strophe wird nun wirklich der Moment des Todes beschrieben, in dem der Mensch von seiner Last erlöst wird. Allerdings wird euphemistisch vom Tod gesprochen, indem statt von „tot sein“ der Ausdruck „[sanft s]chlafen“ (V. 24) verwendet wird. In Birkens „Pilgerlied“ sind somit die drei typischen Motive des Barocks zu finden. Die Anordnung dieser Motive weist aber die beschriebene Zuspitzung auf.

Insgesamt betrachtet erläutert das vorliegende Gedicht den Schöpfungsplan Gottes. Das vergängliche Leben der Menschen auf Erden, welches als beschwerlich beschrieben wird, bildet nur einen kleinen Teil des Ganzen. Das Leben nach dem Tod wird hervorgehoben und als das Ziel der Reise dargestellt.

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