Einladung zur Reise

Meine schwester mein kind!
Denk dir wie lind
Wär es dorthin zu entweichen!
Liebend nur sehn ·
Liebend vergehn
In ländern die dir gleichen!
Der sonnen feucht
Verhülltes geleucht
Die mir so rätselhaft scheinen
Wie selber du bist
Wie dein auge voll list
Das glitzert mitten im weinen.

Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und heiterkeit und pracht.

Die möbel geziert
Durch die jahre poliert
Ständen in deinem zimmer
Und blumen zart
Von seltenster art
In ambraduft und flimmer.
Die decken weit
Die spiegel breit
In Ostens prunkgemache
Sie redeten dir
Geheimnisvoll hier
Die süsse heimatsprache.

Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und heiterkeit und pracht.

Sieh im kanal
Der schiffe zahl
Mit schweifenden gelüsten!
Sie kämen dir her
Aufs kleinste begehr
Von noch so entlegenen küsten.
Der sonne glut
Ersterbend ruht
Auf fluss und stadt und die ganze
Welt sich umspinnt
Mit gold und jazint
Entschlummernd in tief-warmem glanze.

Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und heiterkeit und pracht.

Dichtung hat keinen Ort

Wir wissen nicht den Sinn von Gedichten anzugeben, aber wir wissen, warum die Frage nicht gestellt wird. Dichtung hat keinen Ort im Leben. Wird ein Vers gesprochen oder gesungen, ist er nicht so mächtig, wie er es, geschichtlich gesehen, durchaus gewesen ist. Es gab eine Vielzahl von Gelegenheiten, die der Dichter mit seinen Worten überhöhen durfte. Dem Dichter gelang es, dem Ganzen in der Gelegenheit Ausdruck zu geben. Fraglich ist, ob die „dürftige“ Zeit diese Abwesenheit überhaupt bemerkt, die leere Stelle empfindlich bemerkt, die einmal die Dichtung ausgefüllt hat. Man klammere sich an eine funktionalistische Weltauffassung, an das, was aufgeht, und das sei dürftig. Seitdem hänge die Zeit im Abgrund. Selbst Liebende fänden sich am Abgrund wieder (vgl. Martin Heidegger: Holzwege. Vittorio Klostermann: Frankfurt am Main 2015, 269).

Der Dichter des vorliegenden, 1857 erschienenen Gedichtes weiß von der Abwesenheit der Dichtung und sucht sie in exotischen Gedanken-Ländern. Darum erhält das Gedicht den Titel „L’invitation au voyage“ (Einladung zur Reise). Der Dichter heißt Charles Baudelaire. Die Übertragung ins Deutsche stammt von Stefan George. Sie ist 1901 erschienen.

Inhaltliche Aspekte

Die Möglichkeit einer Reise in ein exotisches Land bildet den Inhalt der ersten Strophe. Dieser Gedanke entfaltet eine große Wirkung beim lyrischen Ich. Es führt dem lyrischen Du vor Augen, wie das Leben in der Ferne gestaltet werden könnte.

Der Gedanke gewinnt immer mehr an Prägnanz. Das lyrische Ich denkt sich, wie in diesem mythischen Land eine gemeinsame Wohnung eingerichtet werden könnte.

Das ferne Land sei offen für jegliche Wünsche, verspricht das lyrische Ich. Ein paradiesisches Leben tue sich in der neuen, zauberhaften Heimat auf. Mit diesen Gedanken schließt die dritte Strophe ab.

Formale Aspekte

Auch in formaler Hinsicht entspricht der Text den bereits angedeuteten Gedanken über die Dichtung, bietet er doch ein geschlossenes Gebilde in „gebundener Rede“, was normalerweise die Poesie von der Prosa unterscheidet. Die Rede wird in überwiegend gleichmäßig gebauten Versen formuliert. Dabei folgt Stefan Georges Übersetzung im Großen und Ganzen dem Original: 42 Verse umfassen drei Strophen mit jeweils direkt an die Strophe anschließendem Refrain. Der Refrain wiederum besteht aus zwei trochäischen Vierhebern mit katalektischem Abschluss. Die Viertakter sind durch einen Paarreim miteinander verbunden. Die Strophen selbst bieten zwölfzeilige Verse, die vermutlich nach dem Schema der rime couée (a a b c c b) als zwei miteinander verbundene Sechszeiler zu lesen sind.

Deutungsaspekte

„Meine schwester mein kind“ (V. 1) –

dass das Gedicht nicht einsam gesprochen wird, sondern sich an jemanden wendet, bleibt die Konstante wirkmächtiger Dichtung. Dass der Dichter jedoch seine Muse wie sein eigenes Kind anspricht, das dürfte den Vorgängern der griechisch-römischen Antike nicht in den Sinn gekommen sein. Homer, Hesiod und Ovid sind vielmehr von der Göttlichkeit der Musen überzeugt gewesen. Baudelaire und George jedoch scheinen in die Göttlichkeit ihrer Gedankengebilde zu vertrauen.



Das Gedicht kann als „Einladung“ (Titel) genommen werden, das Goldene Zeitalter wieder zu errichten. Welche Inspiration das Land der Goldenen Zeit bedeutet, wird am bündigsten im Refrain zum Ausdruck gebracht.

„Là, tout n’est qu’ordre et beauté,
Luxe, calme et volupté.“

„Dort wo alles friedlich lacht –
Lust und heiterkeit und pracht.“

Im Refrain werden aber auch die Kennzeichen der Dichtung versammelt, im Original mehr noch als in der Übertragung – Ordnung („ordre“) und Schönheit („beauté“) an erster Stelle.