Spiegel des Humanen

Wie wird Orest geheilt? Das Befremden, mit dem Iphigenie und Orest einander begegnen, ist von der gleichen Art wie das Befremden, mit dem ein Mensch sein Spiegelbild betrachtet. Für Orest ist Iphigenie ebensowenig greifbar, wie eine Reflexion im Spiegel greifbar ist. Für Goethe offenbart der Spiegel das so genannte Doppelgesicht. So erkennt der wahnsinnige Orest anfangs nicht die Schwester in dem Gesicht der Schwester, sondern nur die Furie, allgemeiner gesagt: nur das strafend Göttliche darin (V. 1169–1171: „Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin? / Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich / Das Innerste in seinen Tiefen wendet?“). Ist […]

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Die reine Menschenliebe?

Iphigenie und Thoas Erster Aufzug. Dritter Auftritt (V. 450–537) Goethes Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“, am 6. April 1779 im kleinen Kreis der Weimarer Hofgesellschaft uraufgeführt, gilt als klassisches Humanitätsdrama. Iphigenie verkörpert, was auszufüllen kein einzelner Mensch imstande ist: die „reine Menschlichkeit“, wie Goethe selbst, nicht ohne Selbstkritik, im Hinblick auf dieses Drama bemerkt. Humanität, d. h. „Menschlichkeit“ oder „Menschenfreundlichkeit“ ist, im Kontext von Goethes Drama, als Gegenbegriff zu Barbarei, Unbildung, aber auch Fremdbestimmung aufzufassen. Im Kontext der Weimarer Klassik findet der Begriff außerordentliche Beachtung. In der Humanität, so formuliert es Herder in Berufung auf Kant, bestehe die Glückseligkeit des […]

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Was wäre, wenn die Götter zu Staub zerfielen?

Iphigenies Konflikt mit den Göttern Die Aufklärung, vor allem in Frankreich, ist religionskritisch. Männer wie Descartes sind von dem festen Vorsatz bestimmt, alles von Grund auf anzuzweifeln und umzustürzen. Was wäre, wenn die Götter nicht existierten, wenn auch der christliche Gott zu Staub zerfiele? Hatten nicht bereits die von den Aufklärern bewunderten Schriftsteller der Antike ihr Misstrauen gegenüber der Religion geäußert? War Cicero zum Beispiel nicht davon überzeugt, dass die Religion der Philosophen („religio philosophorum“) nichts mit der Religion der Masse („religio vulgi“) gemein habe? Goethe übernimmt diese Gedanken in dem Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“. Zunehmend wird Iphigenie sich […]

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