Über Orest

An Goethes Gestaltung der Figur Orest wird deutlich, wie Charaktere in ihr Gegenteil umschlagen können. Fühlt der junge Orest wie eine Figur des Sturm und Drang sich belebt durch die Bestimmung zur Freiheit, empfindet der ältere Orest, von den Erinnyen verfolgt, tief die Unmöglichkeit der Freiheit. Will der Leser die Figur des Orest richtig erfassen, muss er diese doppelte Bestimmtheit berücksichtigen. Natürlich hat der Muttermord den Bruch herbeigeführt. Daran darf der Leser nicht vorbeigehen: Orest ist ein schuldbeladener Charakter. Es muss jedoch festgehalten werden: Die wahnsinnige Klage des Orest verweist darauf, wie sehr er die Mutter geliebt hat.

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Spiegel des Humanen

Wie wird Orest geheilt? Das Befremden, mit dem Iphigenie und Orest einander begegnen, ist von der gleichen Art wie das Befremden, mit dem ein Mensch sein Spiegelbild betrachtet. Für Orest ist Iphigenie ebensowenig greifbar, wie eine Reflexion im Spiegel greifbar ist. Für Goethe offenbart der Spiegel das so genannte Doppelgesicht. So erkennt der wahnsinnige Orest anfangs nicht die Schwester in dem Gesicht der Schwester, sondern nur die Furie, allgemeiner gesagt: nur das strafend Göttliche darin (V. 1169–1171: „Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin? / Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich / Das Innerste in seinen Tiefen wendet?“). Ist […]

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