Über die Seelensprache

Herders Sprachursprungsfrage

Die Sprachphilosophie in ihrer modernen Form beginnt mit der Epoche der Romantik. Denn das Interesse dieser Epoche an den „Seelenlandschaften“ des Menschen bedingt auch ihr besonderes Interesse an der Sprache, ist doch die Sprache, wie Wilhelm von Humboldt es ausdrückt, das „Organ der Seele“. Demnach werden die Seelenkräfte des Menschen, das, woraus die Psyche des Menschen sich bildet, „mit, in und oft nach der Sprache“ (Johann Gottfried Herder) vermittelt.

Herder ist der Ansicht, dass es eine Seelensprache gebe. Sprache meint in diesem Zusammenhang die Mitteilung „innerlicher Merkwörter“, wobei an der Bezeichnung „Merkwörter“ schon deutlich wird, dass Sprache und Reflexion für Herder zusammenfallen. Mit einem Wort: Sprache ist Reflexion, wobei aber eine besondere Funktion von Sprache, die Darstellungsfunktion nämlich ins Auge gefasst wird. Zentrale Gedanken zu dieser Funktion von Sprache finden sich in dem folgenden Auszug aus Herders Preisschrift „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“.

Sprache wird in diesem Textauszug nicht als Ausdruck oder Appell, sondern im Hinblick darauf betrachtet, was sie für die Erkenntnis leistet. Der Gedankengang lässt sich in folgende Abschnitte gliedern:

Z. 1–6: Herders These über die Erfindung der Sprache im Menschen

Z. 7–19: Darlegung dieser These:

  • Z. 7–16: Besonnenheit (Reflexion) als Anerkenntnis eines einzelnen Bildes innerhalb der Seele
  • Z. 16–19: Das erste Wort der Seele als Merkmal der Besonnenheit

Z. 20–12: Erläuterung der These am Beispiel:

  • Z. 20–26: Das Bild eines Lamms als Instinktreiz
  • Z. 26–34: Das gleiche Bild als Erkenntnisobjekt

Z. 35–49: Erörterung des Beispiels:
Sprache als Bildung von deutlichen, wiedererkennbaren Merkwörtern

In den vorausgehenden Kapiteln der Preisschrift wird der Mensch in die belebte Natur eingeordnet, indem der Blick auf die Sprache sich ändert. Die Sprache der Natur ist Sprache der Empfindung. Diese Sprache ist sowohl Pflanzen, Tieren als auch Menschen, so legt Herder es nahe, als ein Naturgesetz auferlegt: „Das war gleichsam der letzte, mütterliche Druck der bildenden Hand der Natur, daß sie allen das Gesetz auf die Welt mitgab: ‚Empfinde nicht für dich allein: sondern dein Gefühl töne!‘“. In Anbetracht der menschlichen Besonnenheit (Reflexion) behauptet der Autor dagegen, am Ziel seiner Untersuchung zu stehen: „[w]ir sind mit einemmal am Ziele!“ Die Sonderstellung des Menschen erweise sich nämlich in dem ihm eigentümlichen, besonnenen Gebrauch der Sprache. So habe er die „Sprache erfunden“ (Z. 2), um besonnen, sprich: „frei würken“ (Z. 2) zu können. Die Entstehung der Sprache wird, wohlgemerkt, als „Erfindung“ der Sprache aufgefasst. Im Kontext des 18. Jahrhunderts bekommt diese Auffassung besonderen Wert. Denn sie schließt erstens aus, dass die Sprache von göttlicher Hand vorgegeben sei (vgl. Süßmilch, 1766). Der Akt der Erfindung ist für Herder ein Akt der Freiheit. Zweitens wird die (rationalistische) Auffassung ausgeschlossen, der zufolge es eine abgesonderte Vernunftkraft innerhalb der Seele gebe. Herder erwidert: „[W]as ist beides, eine abgetrennte Vernunftfähigkeit und Vernunftkraft in der Seele? Eines ist so unverständlich als das andere“. Vernunft und Sprache sind seiner Ansicht nach vielmehr so miteinander verwoben, dass die völlige Abwesenheit von Sprache im Denken schlicht nicht vorstellbar ist: „Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!“ (Z. 5).