Kafkas Raumrevolution

Kleine Fabel

„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.

Immer schon ist der Raum bei Kafka Thema. Die Maus, eine der bekanntesten Tierfiguren Kafkas, ist zunächst glücklich darüber, dass sich in der Ferne Mauern zeigen und damit Räume eröffnen. Aber dann wird der Begriff der schützenden, abwehrenden Mauer zum leeren Spiel, indem die Mauern „so schnell aufeinander zu [eilen]“ und damit zur Bedrohung werden.

Und was das Rätsel betrifft, in welchem Raum die Katze sich befindet:
Ist die Katze nicht als die Ironie des Raums zu begreifen, indem sie die Maus am Ende frisst?

Anmerkung:

Vor allem ist zu beachten, dass der literarische Raum immer der erlebenden Figur bzw. dem auktorialen Erzähler als Bezugssystem zugeordnet werden muss. Es ist daher leicht verständlich, dass der Raum keine starre Größe innerhalb dieses Bezugssystems darstellt. Denn der Ausgangspunkt des Blicks, der Nullpunkt innerhalb des Bezugssystems, kann frei gewählt werden. Auch die Richtungen können variieren, die Gesichtspunkte aufwärts, abwärts und seitwärts sind relative Größen, so dass der Raum sogar als ideeller Inbegriff der Möglichkeiten erscheinen kann.

Von dieser freien Orientierung im Raum kann im Falle der Maus keine Rede sein. An Flucht ist nicht zu denken. Der Text thematisiert also die Unfähigkeit der Maus, sich in Bezug auf den Raum und damit auch in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten sicher zu orientieren.

Wer von dieser Erkenntnis zur Untersuchung des Raums in Kafkas Roman „Der Proceß“ übergeht, betritt so gesehen eigentlich kein neues Gebiet: Auch im Falle von Josef K. ist an Flucht nicht zu denken.