Wilhelm von Humboldt
Die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken erschließt überall neue Fragen. So kann die Objektivität der Sprache, der Sprache einer Nation zum Beispiel, im Unterschied zur Subjektivität der Reflexion herausgestellt werden. Sprache bedeutet dann, dass der Sprecher sich in der Einheit und Allheit der ihn umgebenden Nationalsprache „einspinnt“ (Wilhelm von Humboldt) – und damit seine Individualität preisgibt. Die Nationalsprache erstreckt sich nämlich auf alles, was die intellektuelle Tätigkeit angeht. Die Nationalsprache, um einen Ausdruck der EDV zu verwenden, „formatiert“ das Denken. Andererseits ist die Sprache ohne Subjektivität kaum vorstellbar.
Die Frage, wie es um die Relativität von Sprache und Denken bestellt ist, beantwortet Wilhelm von Humboldt in Anlehnung an Herder. Der vorliegende Text ist der sprachphilosophischen Abhandlung „Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf den Menschen im Allgemeinen“ entnommen. Die Abhandlung ist 1836 erschienen.
Im Brennpunkt des vorliegenden Textauszugs stehen die Begriffe Sprache, Denken, Artikulation und Nationalsprache.
Im Einzelnen liegt die folgende Gliederung zugrunde:
Z. 1–3: Begriffsbestimmung der Sprache,
Z. 4–19: Wechselseitigkeit von Sprache und Denken,
Z. 20–30: Artikulation als Werkzeug des Geistes,
Z. 31–39: Nationalsprache und Weltansicht.
„Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken“ (Z. 1). Eine Metapher ist der Ausdruck „Organ“ durchaus nicht. Denn die Sprache wäre flüchtig wie das Denken, würde sie nicht körperlich mithilfe der Artikulation. Noch größere Körperlichkeit ist mit dem Schriftkörper verbunden: „Die intellectuelle Thätigkeit […] erhält durch die Schrift einen bleibenden Körper“ (Z. 1–3). Diese Begriffsbestimmung der Sprache am Anfang des vorliegenden Textauszugs ist genetisch zu verstehen. Das heißt: der Empfänger muss, um einen sprachlichen Laut, ein schriftliches Zeugnis zu verstehen, immer fragen, für welche intellektuelle Tätigkeit diese denn Ausdruck sind.
Die Sprache ist dem Autor zufolge mit dem Denken nicht nur in einer Richtung verbunden. Einerseits bestehe ihr Zweck darin, das vom Denken Erkannte mitzuteilen. Andererseits erschließe die Sprache dem Denken auch Unerkanntes, indem sie „selbstständig, bestimmend und beschränkend“ (Z. 18–19) auf den Geist zurückwirkt. Die „intellectuelle Thätigkeit“ (Z. 9) hängt also von der Sprache ab, kann ohne die eigentlich ihrer Subjektivität entgegenstehende Objektivität der Sprache nicht fruchtbar werden. Die Ansicht, dass Denken und Sprache sich wechselseitig bedingen, wird am Schluss des vorliegenden Textauszugs am Beispiel der „Erlernung einer fremden Sprache“ (Z. 35) anschaulich dargestellt.
Im Folgenden wird das eingangs als organisch beschriebene Wesen der Sprache anhand der Artikulation behandelt. Damit soll der „Schlussstein“ (Z. 21) der „innigen Verbindung“ (Z. 21–22) zwischen Denken und Sprache aufgefunden werden, der „Hebel“ (Z. 21), ohne den Kommunikation nicht zustande käme. Humboldt zufolge ist die Artikulation eben deshalb unersetzbar, weil die inneren Worte (geistige Substanzen) nur durch körperliche Kraftanstrengung (Energie) als Schall nach außen dringen. Der Wert der Artikulation bestehe darin, dass sie, um das wirkende Wort zu erschaffen, nicht nur Geräusche hervorbringt, sondern gegliederte, dem Willen unterworfene Formen (vgl. Z. 24–26).
Die Sprache des vorliegenden Textauszugs ist durchdrungen von dem Willen zur Synthesis (Z. 30: „Unendlichkeit“). Die bildende Funktion der Sprache soll sich im Zusammenhang dieses Textes offenbar nicht darauf beschränken, den Begriff der Sprache durch die wissenschaftliche Analyse in Einzelteile zu zerschlagen. Vielmehr muss Humboldt im Bereich der Begriffe und der Syntax, im Bereich der Bilder und des Klangs nachweisen, dass die Sprache das Werkzeug eines umfassenden, synthetischen Geistes ist. Der Satzbau ist daher abwechslungsreich, hypotaktisch, die Metaphern gefühlsbeladen: „Das Denken ist […] eine Sehnsucht aus dem Dunkel nach dem Licht, aus der Beschränkung nach der Unendlichkeit“ (Z. 27–30). Die organische Verbindung von Denken und Sprache wird anschaulich in der Metapher des Schlusssteins (vgl. Z. 20), welcher mit den gewaltigen Kuppelbauten von Kirchen assoziiert werden kann. Auch die Metapher des Hebels (vgl. Z. 21) liegt im Bereich der Baukunst. So enthält der Text den für Humboldt zentralen Aspekt, dass die Sprache das Werkzeug (Z. 1: „Organ“) des Gedankens sei, gewissermaßen doppelt: auf begrifflicher und auf bildlicher Ebene.
Arbeitsanregung: