Wirklichkeit in der Neuen Sachlichkeit. Irmgard Keun
Ob jemand eine Wahrheit hat, wird zweitrangig werden. Wir suchen nicht nach Wahrheit, sondern nach Wirklichkeit.
Ganz ohne Fantasie scheint die Literatur der Moderne zu sein. Das Desinteresse an höheren Wahrheiten in der Literatur der Weimarer Republik hat zur Folge, dass Wirklichkeit und Wahrheit in vielen Fällen übereinstimmen. Die erhaben Denkenden, Fühlenden, Liebenden werden zu Figuren grotesker Komik erniedrigt. Ihre Wahrheiten wirken billig, entwertet durch das Dogma des Fortschritts. Vertreter höherer Wahrheiten sind: Gymnasialprofessoren, Großindustrielle, romantische Künstler. Und eben harmlose Passanten, denen Doris auf ihrem Schaufensterbummel begegnet. Doris – in die viel von der Biografie ihrer Schöpferin, der Berliner Schriftstellerin Irmgard Keun (1905 – 1982) eingegangen ist – ist eine der zentralen Gestalten der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Doris, die Protagonistin in Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“, welcher im Jahr 1932 erschienen ist, hat vor, ein „Glanz“ zu werden. Dem entspricht das Gesamtbild: Die Massenmedien der Weimarer Republik propagieren den neuen Frauentypus, die fortschrittliche, wirtschaftlich unabhängige Frau, der es gelingt, aus dem Machtbezirk des Mannes herauszutreten. Vor allem die Filmindustrie ist daran beteiligt, den Glamour der neuen Frau zu vermarkten. Der Glanz ist für Doris zunächst im Schaufenster zu finden. Doch zu ihrem Unglück ist Doris auch von Sehnsüchten bestimmt.
„Ich gehe und gehe durch Friedrichstraßen und gehe und sehe und glänzende Autos und Menschen, und mein Herz blüht schwer. […]
So ist es immer mit uns Kindern von ärmeren Leuten. Ich liebe ja meine Mutter mit einer Sehnsucht und bin doch so froh, dass ich fort bin in Berlin, und es ist eine Freiheit, ich werde ein Glanz.“
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman. List Taschenbuch: Berlin 2012, 93–94.
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